57. Spätromantisch

Morgen

Eine Rosenknospe war erblüht
Und reckte sich, das Veilchen zu berühren.
Die Lilie erwachte
Und neigte den Kopf in der Brise.
Hoch in den Wolken die Lerche sang
Ein zwitschernd Loblied,
Während die frohe Nachtigall
Mit sanfter Stimme sagte:
Sei voll von Blüten, o liebliches Land.
Frohlocke, Staat der Iberier,
Und du, o Georgier, durchs Lernen
Mach deiner Heimat Freude.

Meyer: Eine Strophe aus einem frühen Gedicht von Stalin. Das ist ja ein ziemlich schlichtes Gedicht, Herr Koschorke. Kann man da irgendetwas herauslesen vom späteren Diktator Stalin?

Koschorke: Na ja, Stalin war in seiner Jugend vielerlei, er war unter anderem ein Vertreter, ein erfolgreicher Vertreter, erfolgreich publizierender Vertreter der georgischen Spätromantik, er war aber auch Bandit und Bankräuber. Und in diesem Gedicht zeigt sich seine Abhängigkeit von romantischen Vorlagen, es zeigt sich, dass er da eigentlich gar nicht originell ist, also er orientiert sich sicher am Vorbild Puschkin, aber ihm fehlt irgendwie die Finesse und auch die Ironie, also Selbstironie ist eine… oder überhaupt Ironie ist eine Eigenschaft, die Diktatoren nicht gegeben ist. Aber das ist insofern interessant, dieses Gedicht, als es zeigt die auch durchaus konservative Ästhetik dieses Mannes, und die wird dann bedeutungsvoll, weil er ja einerseits dann einem Regime vorsteht, das sich avantgardistischen Impulsen verdankt – die Sowjetunion war in ihren ersten Jahren ja eine avantgardistische Veranstaltung und hat auch sehr viele der Künstler an sich gebunden -, und andererseits war er dann derjenige, der diesen avantgardistischen Impuls in die Ästhetik des sogenannten sowjetischen Realismus umgewandelt hat, der sich sehr stark historischen Vorbildern verdankt. Man sieht hier, wie nah also ein so eigentlich revolutionäres Regime an abgedroschene Vorbilder der Romantik anschließt. Das ist natürlich eine Auskunft, es ist eine Auskunft darüber, dass wir es hier eigentlich mit einer spätromantischen Veranstaltung zu tun haben.

Russische Version  des (auf Georgisch geschriebenen) Gedichts:

УТРО

 

  Раскрылся розовый бутон,

Прильнул к фиалке голубой,

И, легким ветром пробужден,

Склонился ландыш над травой.

 

Пел жаворонок в синеве,

Взлетая выше облаков,

И сладкозвучный соловей

Пел детям песню из кустов:

 

“Цвети, о Грузия моя!

Пусть мир царит в родном краю!

А вы учебою, друзья,

Прославьте Родину свою!”



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