56. Keine Gedichte mehr

Goethe taucht an den Schulen kaum noch auf, aber auch Reiners ewiger Brunnen ist den meisten Kindern unbekannt. Sie kennen die Gedichte der klassischen deutschen Literatur nicht mehr, nicht im Herbst und nicht in anderen Jahreszeiten. Sie kennen keinen Rilke mehr („Herr, es ist Zeit…“), keinen Mörike („Ich sah des Sommers letzte Rose stehn…“), keinen Storm („Der Nebel steigt, es fällt das Laub…“), keinen Brecht („Am Grunde der Moldau …“), keinen Schiller, keinen Brentano, keinen Uhland, keinen Heine, keinen Novalis, keinen Nietzsche.

Wann haben die Schulen Abschied genommen von der großen Literatur und warum? Es hat keine Begründung gegeben, man hat sich über diese Frage nicht gestritten. Man hat nicht gesagt: Wir wollen keinen Goethe mehr und keinen Brecht. Es war eher eine ganz große kulturelle Schlamperei, ein zufälliges Vergessen. Keiner hat es gemerkt, die Lehrer nicht, die Erziehungswissenschaftler, die Schulräte und die Eltern nicht.

Jetzt kommt die Adventszeit und die Kinder werden in den Schulen singen: „In der Weihnachtsbäckerei gibt es manche Leckerei…“ Ein schönes Lied. Aber warum singen sie nicht auch: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit…“? / Gunnar Schupelius, B.Z.



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