53. Zeitschriftenlese

Michael Braun bespricht wieder aktuelle Zeitschriften beim Poetenladen:

Vor fast genau einhundert Jahren hat der größte amerikanische Poet des 20. Jahr­hunderts, der damals sieben­und­zwanzigjährige Ezra Pound, einer erstaunten Öffent­lichkeit sein Glaubens­bekennt­nis verkündet. Es war eine Absage an die her­kömm­lichen Rollen, die man den Dichtern der Moderne zuschreibt. „Ihr sprecht von Genie und Wah­nsinn“, so spottet Pound in Richtung der „geknebelten Reze­nsenten“, „Ich aber werde nicht wahnsinnig werden, euch zu Gefallen, / werde euch nicht ent­gegen­kommen mit einem frühen Tod, / Oh nein, ich werd ausharren, / spüren, wie euer Haß sich zu meinen Füßen krümmt …“
Mit dieser trotzigen Selbst­behauptung hat Pound fast prophetisch sein eigenes Dichter­schicksal vor­weg­genommen. Er durchlief bis zu seinem Tod im Alter von 87 Jahren alle Stadien der Exzentrik und der Dissidenz, die ein Dichter in diesem Jahr­hundert absol­vie­ren konnte. Er exponierte sich als Revo­lutionär der Poesie, dann wandte er sich ab von der Idee der radikalen Freiheit und lieb­äugelte mit dem Fa­schis­mus Benito Mussolinis, bis man ihn jahrelang in eine Anstalt für krimi­nelle Geistes­kranke einsperrte.

(…)

Im Gegensatz zu Freud zieht Stekel eine direkte Ver­bindungs­linie zwischen der Dicht­kunst und der Neurose: „Jeder Dichter ist ein Neu­rotiker.“ Freilich sieht er in der neu­rotischen Struktur des Poeten keinen Mangel, sondern einen unerlässlichen Impuls seiner Produktivität.
Mit solchen vulgärpsychologischen Thesen zur Affinität von Genie und Wahn­sinn bleibt die „Krach­kultur“ ihrem ursprüng­li­chen Programm treu, die Lite­ratur aus der Per­spektive einer radikalen Dissidenz zu betrachten.

Krachkultur, Ausgabe 14 (2012)  externer Link  
Martin Brinkmann, Steinstraße 12, 81667 München. 200 Seiten, 12 Euro.

Selbst bei seinen berühmten dadais­tischen Per­formances in der Zürcher Künstler­kneipe „Cabaret Voltaire“ habe Ball immer „den Rhythmus des Psalmo­dierens der missa solemnis der katho­li­schen Kirche“ mit einbezogen. Bei aller lite­rari­schen Radi­ka­lität der Sprach­zertrüm­merung, so glaubt Ponzi, ging es dem Dadaisten Ball doch darum, „die geistige Einfach­heit und die gewählte Armut des heiligen Fran­ziskus“ zurück­zu­gewinnen. Was bei den Auf­tritten von Ball, Hans Arp und Richard Huelsen­beck als „euphorisches Wort­gelage“ erscheinen mochte, war immer auch ein religiöses Ritual.

Hugo Ball Almanach, Neue Folge 3 (2012)  externer Link
edition text + kritik, Levelingstr. 6a, 81673 München, 184 Seiten, 16 Euro.

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