Wozu gibt es Gedichte, diese „aparten Ausnahmen“ von der allgemeinen Sprachverwendung, und was verbindet selbst noch ein Gedicht der Gegenwart mit den Ursprüngen dessen, was seit dem 18. Jahrhundert Lyrik heißt? Es ist eine relativ schlichte Frage, die Heinz Schlaffer, emeritierter Literaturprofessor und für seine brillant nüchterne Diktion bekannter Publizist, an den Anfang seiner Untersuchung stellt. …
Dreh- und Angelpunkt seiner Untersuchung ist die These, dass der ursprüngliche Zweck der Lyrik zwar verschwunden ist, das moderne Gedicht aber noch immer „vom Erbe archaischer Funktionen“ zehrt. Ob ägyptische und indische Gebete, hebräische Psalmen, frühgriechische Hymnen und Oden, althochdeutsche Zaubersprüche: die ältesten überlieferten Gedichte bezeugen, dass die komplizierte Form des Sprechens, die wir Lyrik nennen, vor allem einen Zweck hatte, nämlich den, mit den Göttern in Kontakt zu treten.
Auch wenn heute kein Mensch mehr daran glaubt, dass die Poesie die „Muttersprache der Götter“ ist, der man durch geschickte Handhabung nahekommen kann, lebt im Enthusiasmus lyrischen Sprechens etwas vom Wunsch fort, es möge eine Sprache jenseits menschlicher Logik geben. / Meike Feßmann, Tagesspiegel
Heinz Schlaffer: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. Hanser Verlag, München 2012. 208 Seiten, 18,90 €.