53. Einsatzkommando Hölderlin

Über den Umgang der (bürgerlichen) Gesellschaft mit der Kultur spottete Goethe in den frühen Weimarer Jahren: „So verstecken sie zum Exempel / einen Schweinestall hinter einem Tempel“. Wobei ein Großteil seiner Erfahrungen aus Frankfurt stammte. Dort verfährt man noch heute so. Eine dortige „Zeitung für Deutschland“ kündigt auf der Titelseite an: „Hölderlin und die Griechen“. Die Überschrift verweist nicht aufs Feuilleton, sondern auf den Finanzteil. Auf Seite 21, „Finanzmärkte und Geldanlage“, steht die große Überschrift: „Hölderlins Einsatz für ein schuldenfreies Griechenland“. Da staunt der Fachmann wie der Laie!

Der Artikel beginnt aktuell:

Die wirtschaftliche Situation Griechenlands ist düster. Eine Rendite von rund 10 Prozent für fünfjährige Staatsanleihen stellen im Euroraum einen Rekord dar. Für das Jahr 2013 wird die Schuldenlast des Mittelmeerlandes auf 158 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschätzt. Mittlerweile mehren sich die Zweifel, ob das Land überhaupt in der Lage sein wird, seinen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. Hinter den Kulissen sollen die Europäische Union, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Zentralbank an einem Plan zur Umschuldung Griechenlands arbeiten.

Dann gehts in die Geschichte:

In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts war Griechenlands Position auf den internationalen Finanzmärkten nicht besser als heute. Schon während der Freiheitskriege gegen das Osmanische Reich (1821-1829) hatte die provisorische Regierung zwei Anleihen über die Londoner Bankhäuser Loughman, O’Brien, Ellice and Company (1824) und Jacob and Samson Ricardo (1825) ausgegeben. Die Griechen hatten damals sogar die Wahl zwischen verschiedenen Angeboten: Auch das schweizerische Bankhaus Odier & Cie wäre zu dem Geschäft bereit gewesen. Nun war die Gewinnspanne zwar verlockend hoch und das Risikobewusstsein der Bankiers im 19. Jahrhundert notorisch gering, aber trotzdem bleibt dieser Vorgang erklärungsbedürftig. Warum waren Finanziers bereit, in die Anleihen eines Staates zu investieren, von dem noch nicht einmal absehbar war, ob er sich würde etablieren können?

Nun, der Leser erräts, kommt die Kultur ins Spiel. Jedenfalls langsam (nicht zu viel, Kapital ist scheu, wo habe ich das gelesen?):

Eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung der Kredite spielten die Philhellenenkomitees, die seit Beginn des griechischen Freiheitskampfes im Jahr 1821 überall in Europa und auch in den Vereinigten Staaten wie Pilze aus dem Boden schossen: in London und Paris, in Zürich und Wien, in Berlin und München und selbst in vielen kleineren deutschen Städten. Die Freunde Griechenlands schlossen sich zusammen, um die Hellenen in jeder nur erdenklichen Weise in ihrem Kampf zu unterstützen: Sie informierten Presse und Öffentlichkeit über den Heldenmut der Partisanen gegenüber ihrem osmanischen Gegner, machten Druck auf die Politiker ihrer Regierungen, sammelten beträchtliche Mengen an Spenden, organisierten Schiffe, Nahrungsmittel und Waffen und entsandten Freiwillige.

Jetzt aber Namen:

Klangvolle Namen zierten die Mitgliederlisten: die Dichter Lord Byron, Victor Hugo und Friedrich Hölderlin, die Professoren Friedrich Thiersch und Wilhelm von Humboldt, ja selbst der erste Tory, der britische Außenminister George Canning, zählten dazu.

Ja, selbst George Canning. Aber Hölderlin? Griechenlandbegeistert in der Tat – aber 1821? Da war er ferne, nicht mehr dabei. Irr, genauer gesagt. (Vgl. hier, letzte Strophe!).

Hölderlin lebte in seinem Tübinger Turm als behördlich anerkannter Geisteskranker. Wilhelm Waiblinger schreibt am 3.7. 1822 in sein Tagebuch, brühwarm nach einem Besuch beim kranken Dichter:

Nun murmelte er wieder, ich bin eben im Begriff, katholisch zu werden, Eure königliche Majestät. Wurm fragte, ob er sich an den griechischen Angelegenheiten erfreue – Hölderlin umfaßte einst die Welt der Griechen mit dem trunkensten Enthusiasmus – Er machte Komplimente und sagte unter einem Strohm von unverständlichen Worten: Eure königliche Majestät, das darf, das kann ich nicht beantworten.

Eine schöne Vorstellung: der geisteskranke Dichter überredet Kapital und Bundesregierung, sich für die Entschuldung Griechenlands einzusetzen. Drunter machen sies nicht. Ein bißchen Kultur muß halt dabei sein.

Die Zeitung des Bildungsbürgertums – na, lassen wir das. Hölderlin hat es ohnehin vorausgesehen. So kam ich nach Deutschland… Handwerker sah ich, aber keine Menschen. Bankiers, aber keine Menschen. Journalisten, aber keine Menschen.

(Geistige Gummibärchen ist eine gelegentliche Kolumne zur Poesie des Medienspeak)



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