52 Bilder-Geschichten #3: Nächstenliebe

Die Buslinie sechzehn brachte sie zur Endhaltestelle.
»Sie müssen jetzt aussteigen«, sagte der Herr hinter dem Lenkrad. »Ich mache dreißig Minuten Pause.« Hilde sah aus dem Fenster. Sie konnte sich nicht erinnern, hier jemals ausgestiegen zu sein.163
»Ich wollte zum Friedhof«, hörte sie ihre eigene Stimme, die ihr fremd in den Ohren klang.
»Ja. Wenn Sie gleich links den Weg entlang laufen, steuern Sie direkt drauf zu.« Der Herr wirkte ungehalten. Hilde erhob sich schwerfällig von ihrem Sitzplatz.
»Wann fahren Sie in die Stadt zurück?«
»Halbe Stunde.« Der Mann öffnete die Türen des Busses und kalte Januarluft strömte ins Innere. Hilde hielt den Mantelkragen vor ihrer Brust zusammen und stützte sich auf ihren Stock. Wackelig stieg sie aus dem Bus. Der Ort erschien ihr fremd. Hier konnte unmöglich der Friedhof sein. Zischend schloss sich die Fahrertür. Der eisige Wind blies ihr ins Gesicht. Nachdem sie einige Schritte gegangen war, hatte sie einen herrlichen Blick über die Stadt. Die kleinen Häuser lagen verschlafen am Hang, die Müllverbrennungsanlage leuchtete mit ihren bunten Schornsteinen aus der Ferne und die sanften Hügel des Sauerlandes erweckten einen seltsam beruhigenden Anblick.
Sie schlug den beschriebenen Weg ein. Die Straße verjüngte sich, je weiter sie ging. Der Asphalt wirkte brüchig und das weiß-rote Straßenschild verwirrte Hilde. Der Weg zum Friedhof sah in ihrer Erinnerung anders aus. Sie betrachtete die hohen Bäume am Straßenrand, den laubbedeckten Waldboden. Nirgendwo das Eingangsschild. Sie blickte zurück. Wo war sie bloß?
Am Waldrand entdeckte sie in kleines Haus, versteckt hinter Tannengrün und verwilderten Brombeerbüschen. Sie steuerte langsam darauf zu. Eine Frau – mit gelben Gummihandschuhen und einer Gartenschere bewaffnet – stand mitten im Gestrüpp. Als sie Hilde erblickte, lächelte sie.
»Guten Tag«, sagte die Frau.
»Hier geht es nicht zum Friedhof«, bemerkte Hilde. Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Da sind sie falsch abgebogen.«
»Ich … aber … der Weg zurück …« Sie sah verunsichert umher. Die Frau zog ihre Gummihandschuhe aus und steckte die Gartenschere in ihren Parka.
»Soll ich ihnen helfen? Wollen Sie zum Friedhof?«
»Ich weiß es nicht. Ich muss zur Bushaltestelle. Der Bus fährt ja gleich wieder.«
»Kommen Sie, ich bringe Sie eben dorthin.« Die Frau lief um die Brombeerbüsche herum zu einem klapprigen Kleinwagen.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie.
Hilde überlegte, ob sie sich der Jüngeren anvertrauen durfte. Die Frau zog die Stirn in Falten. »Soll ich Sie vielleicht lieber nach Hause fahren? Der Bus ist bestimmt schon abgefahren. Wohin müssen sie?« Die alte Dame blickte sie aus tiefen Augen an.
»Ich weiß es nicht mehr.«


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