Von Bertram Reinecke
Merkwürdig: Immer wenn Stolterfoht sich poetologisch äußert, scheint in den Debatten darum alsbald ein Nebel heraufzuziehen. Der eine sieht dies, der andere das, aber über das, was da vor einem liegt, wird man sich nicht einig. Dies war bei seinen kurzen Bemerkungen im Jahrbuch der Lyrik der Fall. Dies war einige Zeit vorher auch bei seinem Beitrag für die Bella Triste so gewesen obwohl Ulf Stolterfoht sich einer klaren poetologischen Prosa bediente. Ist dies ein Indiz dafür, dass er an ein Tabu rührt? [1]
Dann könnte eine Debatte um seine Ideen sehr wichtig sein und deswegen möchte ich hier erneut Stellung zu seiner Position beziehen. [2] Um den Quereinstieg zu ermöglichen gehe ich erneut vom Text im Jahrbuch der Lyrik aus. Was dazu ansonsten von anderen und von mir geäußert wurde versuche ich [3] so weit wie möglich außen vor zu lassen.
Einen Ausgangspunkt gewinnen: Worüber wird geredet
Zunächst: Man kann die ganze Aufregung über Stolterfohts Text nicht verstehen, wenn man annähme, er habe sich einfach über seinen Gedichtgeschmack geäußert. Denn dass sich ein Dichter vielleicht für unverständlichere Gedichte mehr, für pointierte, abgesehen von ihrer Regelhaftigkeit und ihrem Anarchismus weniger interessiert, ein anderer für komische und unverständliche, ein dritter für ernste und verständliche, dass also Geschmäcker verschieden sind, bedarf keiner Diskussion. Überdies war spätestens aus seinen eigenen Gedichten erschließbar, dass Stolterfoht solche Präferenzen hat, wie er sie vorsichtig fragend und im Konjunktiv äußert.
So banal sieht der Inhalt nur aus, wenn man vorgeht wie ein Deutschlehrer, der seinen Schülern eine Aufgabe stellt oder wie ein Schüler, der eine solche Aufgabe löst. Man zieht einen Rahmen um das Problem: Was ist denn nun unstrittig Inhalt des Textes? [4] Aber da beißt sich die Katze in den Schwanz: Wenn man den Text völlig theoretisch nur als Anlass zu seiner eigenen Zusammenfassung gebraucht, mag das der wesentliche Inhalt sein. Man kann Texte aber eben auch auf verschiedene Weise gebrauchen. Er handelt auch von der Höflichkeit Stolterfohts, vielleicht von seinen Ideologien u.s.w. Allerdings: Man muss dann einen anderen als einen standardneutralen Kontext wählen. Er handelt dann von anderen Gegenständen.
Dass sich etwas als Standard etabliert hat, ist Ergebnis der lehrenden Praktiken. Wo ein Text auf einen neuen Kontext trifft, entstehen fortwährend neue Bedeutungen. Ein Text hat damit einen unabmessbaren Inhalt. Mit Bezug aufs Gedicht wird dies oft mit Emphase behauptet[5], es ist aber eine Eigenschaft von Sprache überhaupt. Das Gedicht nimmt hier keinerlei bemerkenswerte Sonderstellung ein. Dies impliziert auch Stolterfohts Bella Triste Essay. Soll das Gedicht das Ziel haben, das „Verstehen zu verstehen“, dann ist der zwanglose Übergang von seiner Sprachform zu anderen dafür Bedingung, ansonsten könnte man ja nur das Verstehen des Gedichts besser verstehen.[6]
Wählt man einen Kontext, der nach der Praxis des Umgangs mit Gedichten fragt, dürfte man weiter kommen. Immerhin handeln nur zwei, wenn auch vielleicht gewichtige, Absätze seines Jahrbuchnachworts explizit von seinen Präferenzen, während diese und sieben weitere von den Schwierigkeiten und Freuden im Umgang mit fünf Kisten voller Gedichte künden.
Dieser Faden wird von seinen Kontrahenten dann auch ausgebaut, indem Hans Thill vom Deutschunterricht spricht, Praktiken wie Verbieten, Witze machen, Konfabulieren, Auswendiglernen, Rumreichen eingeworfen werden und Axel Kutsch seine essayistischen Umgangsformen mit einem Boxkampf vergleicht. Über ein einzelnes Gedicht sind sich Axel Kutsch und Ulf Stolterfoht hingegen nicht so uneinig, wie es die Polemik nahelegt. Meine Gedichte z.B. lesen und berücksichtigen sie als Herausgeber beide, auch über die Qualität der Texte von, sagen wir, Karl Mickel könnten sie sich einig werden. Bei Thill und Trahms hingegen könnte man sich auch auf die Suche machen, ob sie trotz des Zugeständnisses gemeinsamer Präferenzen nicht hie und da uneins mit Stolterfoht wären bei der Bewertung einzelner Gedichte, oder inwieweit die Zugeständnisse, die sie Stolterfohts Position offensichtlich machen, nicht eher argumentationstechnischer Natur sind, indem ihre Texte nach dem Muster „Ja, aber“ gebaut sind. Es bleibt auch die Frage, warum Ulf Stolterfoht hier keine Beispiele gebraucht, um seine Aussagen plastisch zu machen, wie er es beispielsweise einige Monate später dem Deutschlandfunk gegenüber getan hat.
Es gibt also etwas an dieser Diskussion, was über die Worte auf dem Papier des Jahrbuches weit hinaus reicht und mir fiel dabei auf, dass viele der gegeneinander gemachten Einwände eine unterschiedliche Auffassung bzw. Verständnisweise dessen zu Grunde liegt, was wir tun, wenn wir mit Texten umgehen.
Wie Hans Thill in seiner Antwort auf Stolterfoht[7] benutze ich hier also einen klassischen Schachzug der Interpretationskunst. Er weitet den Rahmen. Ich tue das gleiche und erweitere zunächst den Textkorpus.
Die zentrale Denkfigur?
In seinem Text für Bella Triste hatte sich Ulf Stolterfoht bereits vorher zum Thema „Verstehen“ geäußert: Es gäbe „ein Mißverständnis gegenüber dem Begriff des Verstehens: so wie es möglich sei, eine Bedienungsanleitung oder ein Kochrezept zu verstehen, müsse es, bei entsprechendem Vorwissen, möglich sein, ein Gedicht zu verstehen. Hier liegen gleich mehrere Hunde begraben. Ich bin mir nämlich überhaupt nicht so sicher, ob es tatsächlich möglich ist, einen Gebrauchstext im intendierten Sinne zu verstehen.“ Was würde es bedeuten, wenn man in diesem Satz mehr als eine paradoxale Provokation sähe? Zunächst: Um die Verständlichkeit oder Unverständlichkeit eines konkreten Gedichts geht es nur mittelbar. Was verstehen wir überhaupt, wenn wir nicht einmal eine Gebrauchsanweisung verstehen? Hier setzt Hans Thill mit seiner Hermeneutik an, indem er das, was Stolterfoht vorschwebt, implizit zur Deckung bringt mit dem Gemeinplatz der Hermeneutik „Verstehen ist immer Mißverstehen.“ So lässt sich, Thill meint das, einigermaßen mit einem Verstehensbegriff leben, den Stolterfoht, dem Thills Verständnisbegriff aus seinem Studium noch vertraut sein dürfte, hartnäckig ablehnt.
Stolterfohts Kritik am Verstehensbegriff zielt jedoch in eine ganz andere Richtung. Sie erinnert stark an diejenige Wittgensteins. Das ist kein Zufall. Stolterfoht kennt und schätzt insbesondere auch das Spätwerk „Philosophische Untersuchungen“ des Denkers und man wird dies kaum tun können, ohne sich zu dessen radikaler Umdeutung des Verstehensbegriffs zu positionieren, insofern es nicht übertrieben ist, diese als das Zentrum dieser Philosophie anzusprechen. Wittgenstein möchte unter anderem zeigen, dass es kein stärkeres Kriterium für ein glückendes Verstehen gibt und geben kann, als die Fortsetzung einer symbolischen Handlung durch weitere symbolische und nichtsymbolische Handlungen.[8] Insbesondere verwendet er eine große Sorgfalt darauf zu belegen, dass nirgends in der Sprache und auch nicht in Mathematik oder Geometrie[9] ein Gedankeninhalt oder ein Vorstellungsbild von hingeschriebenen Zeichenreihen ablösbar ist, der als Garant für geglücktes Verstehen einstehen könnte. Es können also die üblichen Bilder des Verstehens in der Philosophie, insofern sie immer auf ein Etwas hinter den Worten – Vorstellungen, Bilder, Begriffe oder Gedanken –zurückgreifen, das, was wir Verstehen nennen, nicht erklären.[10]
Wittgenstein möchte die Sprache der Philosophie (Ästhetik etc.) vom verfehlten Umgang mit solchen Begriffen heilen. Wohlgemerkt: Diese Auffassung des Verstehens soll keine Alternative darstellen zu anderen Auffassungen dieses Begriffs, sodass es einem frei stünde, sich nach seinen Auffassungen oder dem Kontext dessen, was es gerade zu verstehen gilt, für den einen oder den anderen zu entscheiden. Er möchte das adäquate Gespräch über das Verstehen allererst herstellen. Etwas soll das herrschende Gerede zum Verschwinden bringen oder ersetzen.[11]
In Stolterfohts Text finden sich zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Wittgensteinschen Positionen. Vorstellungsbilder, schreibt Stolterfoht, machten zumindest das Gedicht sprachlos, eine Skepsis, dass sich Gedichte, ja Texte überhaupt auf Gegenstände bezögen kommt zum Ausdruck, das lyrische „ich“ insbesondere sei nur eine Zeichenmarke, wollte man überhaupt schauen, wovon Gedichte handelten, müsse man sagen, sie handelten von wahrer oder falscher Sprache. Wie bei Wittgenstein, der von dem, was wir wahr und falsch nennen, einen Bezug zu Lebensformen herstellt, laufen Ulf Stolterfohts Betrachtungen auf Fragen nach dem guten Handeln hinaus.
Nun soll hier Stolterfoht natürlich nicht auf diese von vielen Seiten als extremistisch empfundene Position festgenagelt werden, es kann durchaus sein, dass er als Praktiker dieses Konzept nur als Anregung für seine Schreibpraxis versteht, quasi als Metapher dafür, wie viel in der Sprache selbst, wie wenig jedoch in einer dahinter liegenden Ontologie gesichert und eingefangen werden kann.[12] Er hält aber offenbar immerhin den Begriff des Verstehens, wie er allgemein im Schwange ist, für so heillos, dass er ihn als Instrument für die Beschreibung unserer Umgangspraxis mit Gedichten außer Kurs bringen möchte. (Ich hingegen möchte den Verstehensbegriff für die Stolterfohtsche Position retten.) Und dieses Unbehagen lässt sich plausibel machen, ohne auf Wittgensteins Position zurückzugreifen.
Das problematische Erbe der Hermeneutik
Zunächst sei von einem landläufigen Gebrauch von „Verstehen“, wie er in Wendungen wie „Verpiss Dich, verstehste?“, „Davon versteh ich nichts“, „Er versteht mich nicht“, „Dafür habe ich kein Verständnis“ usf. aufscheint, ein Verstehensbegriff abgegrenzt, der durch den gleichlautenden Sprachgebrauch einer Reihe von ästhetischen Schulen belastet ist. Gewisse Gemeinsamkeiten im Umgang mit dem Begriff lassen sich etwa beim biografischen Ansatz (z.B. Dilthey) bei der Hermeneutik und der Züricher Schule (Werkimmanenter Ansatz) feststellen.[13] Der Bequemlichkeit halber werde ich dies Bündel als Hermeneutik bezeichnen, auch wenn das diesen Bereich fälschlich behandelt, als wäre es einer mit festen Rändern. Ich bin mir auch bewusst, dass nicht alle Richtungen, die die folgende Polemik betreffen soll, sich selbst als Hermeneutik betrachten.
Umgekehrt nennen sich einige Hermeneutiker, die auf dies problematische Erbe nicht zurückgreifen. Solche Vertreter mögen mit deser Bezeichnung etwa ihre Wertschätzung philologischer Verfahren ausdrücken, die die Hermeutik (im Gegensatz etwa zu einigen ideologiekritischen Strömungen) überliefert hat. Es kann also auch jemand, der sich selbst als Hermeneutiker bezeichnet, ein Buch über Literatur verfassen, welches ich wertschätzen würde.[14]
Zunächst und banal: Sie alle bringen den Begriff des Verstehens in den Zusammenhang mit dem Begriff der Interpretation. Denkschulen, die das nicht tun, scheinen uns oft geradezu wie apokryphe Sonderformen, summiert man aber den landläufigen Gebrauch des Wortes „Verstehen“ hier auf, bei dem es merkwürdig wäre, davon zu sprechen, dass es dabei irgendwie um eine Kunst der Interpretation ginge, erweisen sich nicht diese „apokryphen“ Schulen, sondern die Hermeneutiker als die Sonderlinge. Gleichwohl kennen wir alle die Gewohnheit so zu reden so gut, dass wir immer der Gefahr unterliegen, reflexhaft so zu denken wie sie, sobald wir einen philosophischen Standpunkt einnehmen.[15]
Gemeinsam ist den hier angegriffenen Schulen weiterhin, dass ein gewisser in einem mehr oder minder neutralen Rahmen abgesteckter (das Problem hatten wir bereits oben) Inhalt quasi von einem Gefäß in das andere gegossen wird. Notorisch wirken die Formmittel, die solche Schulen von den Inhalten abtrennen zu können meinen, merkwürdig unnütz, und lediglich als Schmuck oder um der Eingängigkeit willen verwendet und also „eigentlich“ entbehrlich. Die viel beschriebene „Einheit von Inhalt und Form“ wird doch (man sehe sich klassische Beispiele dieser Interpretationskünste an) oft lediglich semantisch ausgelegt, dass also ein Formmerkmal inhaltliche Merkmale trage, wo sie nicht sowieso mehr emphatisch beschworen als nachgewiesen wird.
Verstehensprozesse seien, so eine weitere Sprachregelung dieser Richtung, „unabschließbar“. Böswillige Zungen würden sagen, damit mache sich der Vertreter dieser Richtung falsifikationsresistent, man kann freundlicher sagen, das Verstehenskonzept reflektiere selber, dass es nicht das leistet, was man sich davon versprach. Dennoch müssen die Vertreter dieser Denkrichtungen im Wissenschaftsprozess, sowie Lehrer in der Schule ihren Schülern gegenüber immer darauf bestehen, ihre Meinungen seien objektiv.[16]
Dieser Objektivitätsanspruch geht außerdem damit einher, dass manche Vertreter dieser Schulen betonen, bei der Interpretation handele es sich um eine Kunst. Der Gedanke, dass es eine Kunst gäbe, die offensichtlich von Professoren besser und unter diesen wiederum von Ordinarien notorisch am besten beherrscht wird, scheint mir etwas krank. Es lässt sich fragen, ob sich hier die Kunstfertigkeit nicht auf das Ausüben von Diskursmacht reduziert.
Mindestens aber dürfte es für Schüler eine Zumutung sein, darauf verwiesen zu sein, im Deutschaufsatz objektive Fakten niederlegen zu müssen, die sich nur mit Mitteln der Kunst erschließen lassen. Sie sind also gezwungen kreativ zu sein, als sollten sie in der Schule eigene Gedichte verfassen.[17]
Gleichfalls heben Vertreter dieser Richtung hervor, wie ausgesprochen wichtig Gedichte für den Einzelnen seien, glauben aber, es zöge diese Gebilde herab, wenn man sich fragte wofür. Sie fordern zwar unablässig, die praktische Legitimität ihres Unterrichts anzuerkennen, entrücken, ja stehlen sozusagen aber den Gegenstand, der diese einlösen könnte.[18] Doppelbindungen wie die geschilderten machen krank, weil ein schiefes Sprechen hier ein schiefes Sprechen auch an anderer Stelle nach sich zieht[19], weitere Teile des Diskurses also infiziert werden. Ebenso perfide ist die Tatsache, dass die Hermeneutik nach Aussagen ihrer Vertreter sich nur dann oder zumindest am besten dann anwenden lässt, wenn man den Gegenstand liebt, den es zu untersuchen gilt. Dies scheint nicht nur bereits in der Formel „begreifen, was uns ergreift“ auf, bei Staiger kann man es ganz explizit lesen: „Sind wir aber bereit, an so etwas wie Literaturwissenschaft zu glauben, dann müssen wir uns entschließen, sie auf einem Grund zu errichten, der dem Wesen des Dichterischen gemäß ist, auf unsere Liebe und Verehrung; auf unserem unmittelbaren Gefühl.“ Andernfalls, so lese ich weiter[20], liefe das Interpretationsgeschäft auf das sinnleere Wiederholen von Angelerntem hinaus. Will der Schüler, so schließe ich, das Ziel des Deutschunterrichts erreichen, findet er sich in eine „Du musst lieben“-Paradoxie verstrickt, wenn er nicht brav genug ist, sich für alles zu begeistern, was der Lehrer vorgibt. So deutlich wie bei Staiger wird dies freilich nicht oft benannt. Allerdings ist schon zu bemerken, dass eine Haltung wie die Hugo Friedrichs[21]: „Ich mag es nicht so, aber man sollte es lesen“, nicht sehr verbreitet ist unter Hermeneutikern. Meist wird die Gewichtigkeit des Gegenstandes eifrig heraufbeschworen, die eigene Wertpriorität also gleich im Paket mitverkauft. Und dies tun ja nicht nur bequeme Deutschlehrer. Schaut man sich die bevorzugten Gegenstände der angegriffenen Deutungschulen an, sieht man, dass sie sich auffallend oft mit „Überdichtern“ wie Hölderlin, Kafka oder Celan beschäftigten.
„Mein Deutschunterricht war aber nicht so schlimm“, mag man einwenden und Recht damit haben. Die Verwerfungen eines Verstehensbegriffes und der fürchterlichen Theorien, die daran hängen, mag sich ein kluger Deutschlehrer, der jeden Tag Schüler vor sich hat, die er ernst nimmt, vom Leibe halten. Auch werden die Leser der Lyrikzeitung, die sich ja trotz Deutschunterricht weiter intensiv mit der Materie befassen, zumindest unter der letztgenannten Schizophrenie nicht so stark gelitten haben.[22] Ein anderer wird klug genug gewesen sein, eben hinzuschreiben, was erwartet wird, um sich die widersprüchliche Praxis vom Leibe zu halten. In der Tat: Auch ich habe den Literaturunterricht lieber gemocht als manch anderen. Man mogle sich bloß nicht um das Eingeständnis herum, dass man ebenfalls von einer kranken Praxis verbogen wurde. Man meine nicht, man sei mit seinen Denkreflexen unbeschadet davon gekommen![23]
Mancher mag die letzten Ausführungen missverstehen, indem er in den Streitlinien einen alten akademischen Streit wiedererkennt. (Stolterfoht historisiert denn auch in seinem Bella Triste Essay das Gerede der hier angegriffenen Gruppen zum „Geraune der 50er Jahre“, wo er sein Unbehagen nicht um des Konsenses willen im Zaume hält.[24] ) Einige Dinge sind jedoch grundlegend anders als z.B. im Methodenstreit der 70er Jahre. Erstens befinden wir uns auf einem ganz anderen praktischen Feld als dem der reinen akademischen Lehre. Da ist es inadäquat, dass man wie die damaligen Protagonisten sozusagen einen Filter aufstellt, den nur die vernünftige Rede (oder das, was die logischen Positivisten dafür hielten) durchdringen kann, denn im Gedicht könnte es ja zentral darum gehen zu verstehen, was Erkenntnis und sinnvolle Rede denn überhaupt einmal ist.[25] Zweitens mag das positivistische Programm, das den Zeichen Referenzgegenstände zuzuweisen sucht usw., im Rahmen einer normalen Wissenschaft[26] fruchtbar sein, Stolterfoht (und mich) überzeugt es nicht. Ganz anders als in einem wissenschaftlichen Rahmen ist das Gespräch auch nicht auf die Utopie einer wertfreien Wahrheit gespannt, der es sich irgendwie anzunähern gelte, sondern auf Fragen des praktischen Tuns. Alle diese Unterschiede ergeben ganz andere Hinterhalte des Sprechens.
Dennoch kommt vielen die Hermeneutik wie ein toter Hund vor und sie empfinden eine Kritik daran als müßig.
Sie ist aber in der Praxis von Deutschunterricht, Feuilleton und Dichtergespräch noch stärker gegenwärtig als man meint, wenn man an der Uni nur die akademischen Kollegen ernst nimmt, die gehalten sind, immer die neueste theoretische Eisenbahn zu kennen. Dies nicht nur insofern man eben in der Jugend an der Universität studiert und Tätigkeiten an den drei anderen Orten anschließend vollführt.[27]
Es gibt aber durchaus auch inhaltliche Gründe, warum diese Art zu reden sich hält. Gerade zum Dichter als Einzelkämpfer passt der Geruch der Privatheit mit lesender Übersicht, den die Vertreter dieser Denkschulen verströmen, besser als der seminaristischer Betriebsamkeit, die durch Unibibliotheken flutet, um Spezialaufsätze in Fachzeitschriften zu recherchieren, wie ihn andere Denkrichtungen verströmen. Auch der (gehetzte) Kulturredakteur wird sich eher zur Sorgfalt motivieren können, wenn es ihm gelingt, sich seinen Leser so vorzustellen. Dass diese Schulen nur wertvolle Gegenstände eines Interesses würdigen, kommt ebenfalls der Praxis von Zeitung und Schule entgegen. Geht es im ersten Falle darum, dass sich leichter Nachrichtenwert generieren lässt, wenn Namen in Umlauf sind und das können immer nur wenige sein, ist der Deutschunterricht rein zeitlich beschränkt und möchte doch möglichst umfassend bilden.
Ein weiterer Grund, sich zu den genannten Schulen besonders hingezogen zu fühlen, ist zunächst ehrenwert: Im akademischen Wettbewerb verkommen neue Theorien mitunter zu einem Instrument, den eigenen Status zu heben, indem man so suggeriert, man sei eigentlich schlauer als die Kollegen.
Wo die Zeit nicht mehr ausreicht zu schauen, zu welchen Wahrheiten oder wenigstens welchen Irrtümern man mit den neuen theoretischen Instrumenten gelangt, sondern diese Theorien nur das übliche Gerede nach der neuesten akademischen Mode einkleiden,[28] ist die Sehnsucht groß, eine Sprechweise zu finden, die dieser Beliebigkeit entgeht. Der eine mag da zurückgehen zu den Gewissheiten früher Jugend. Den anderen mag faszinieren, dass sich die Diskurse dieser Denkrichtungen als im Kern dauerhaft, jedoch an den Rändern flexibel zeigen, insofern sie den Anspruch erheben ein kontinuierliches Gespräch, das bis auf die alten Griechen zurückreicht, fortzusetzen.[29] (Dass sie um dieses scheinbaren Konsenses Willen vielleicht systematisch immer das aussparen, worüber wir eigentlich reden sollten, lässt sich hingegen durch nichts beweisen.)
Historisch sind die genannten Positionen auch dadurch nicht, dass sich an den Schnittstellen ihrer eingeübten und verhehlten Denkwidersprüche auch scheinbar modernere Theorien einnisten können, die hier alle einzeln aufzuzählen und anzugreifen ihre Unterschiedlichkeit wie ihre oft relative Unbekanntheit verbietet.[30])
Welches Pathos wir jemandem zugestehen bei der Vertretung seiner Anliegen, und das hermeneutische Sprechen scheint notorisch wenn nicht auf Ehrwürde, so doch auf einer gewissen Höhe des Überblicks zu bestehen, ist auch eine Frage der Herrschaft.[31] Deswegen wurde das Grundpathos der Hermeneutik bis auf verschämte Restbestände aus der Wissenschaft zurückgedrängt.[32] Der pathetisch Sprechende gewinnt Macht, je verbindlicher er dabei spricht.[33] Das wirkt auch im Gedicht. Man ist misstrauisch und versagt sich entweder die Verbindlichkeit, indem man etwa fordert, ein Gedicht dürfe nicht „platt“ politisch sein oder am besten sei es hermetisch[34], oder man versagt sich das Pathos gleich ganz.[35]
Einen anderen Blick gewinnen
Sollte dies hier vielleicht etwas scharf gezeichnete Bild des Geredes um Verstehen und Interpretation nur einigermaßen zutreffend sein, dürfte verständlich werden, dass man bei Redewendungen wie „Verstehen ist auch immer missverstehen“ zurückfragen möchte: „Ich versteh nicht, meintest Du ‘Missverstehen ist immer Missverstehen’ oder sagtest Du ‘Verstehen ist immer Verstehen’“ bzw. „Ich verstehe nicht, wolltest Du das Wort Verstehen oder das Wort Missverstehen durch solche Fügungen in Misskredit bringen?“ Da man aber so nicht miteinander umgeht (zumindest, wenn man ernst genommen werden möchte), versteht man schon: Man rekonstruiert, wann und wozu[36] ein solcher Satz geäußert werden könnte: Er ist eine wirksame Waffe in der Hand des Mächtigen durch Bündnis (als Vasall herrschenden Geredes) oder durch Status (z.B. Lehrer-Schüler-Verhältnis), insofern er eigene Irrtümer, die gelegentlich mit unterlaufen mögen, entschuldigt und das Verstehen des anderen bestreitet.[37] Im Munde des diskursiv Unterlegenen ist er hingegen nutzlos, weil unglaubwürdig[38].
Kein Wunder, dass man sich irgendwann dem gängigen Verstehen entzieht und ernst macht damit, dass hier sozusagen alles Geld Falschgeld ist. Wer also einen anderen Verstehensbegriff als den gängigen vorschlägt, und vor allem das sollte der Exkurs in die hermeneutikartigen Theoriegebilde zeigen, muss diesen nicht daran messen lassen, was der bisherige leistet und der eigene nicht. Wir haben keinen eingeführten konsistenten Verstehensbegriff, der Leistungen erbringen würde wie die, zu unterscheiden, was eine richtige und was eine falsche Interpretation ist, was man wissen sollte, bevor man einen Text einer bestimmten Art interpretierte, welche Gegenstände verbindlich als das Thema eines Textes benannt werden könnten usw … Zumindest ersteres würden die Theorien „richtig verstanden“ eingestehen, dennoch muss jeder, der eine Interpretation zu einer Prüfungsleistung macht, unterstellen, dass diese Probleme gelöst wären.
Und selbst was der Nutzen der Praxis des interpretativen Verstehens außerhalb der eingeführten Spielchen an Schule und Universität ist, ist nicht so klar.[39]
„Nun gut“ mag man einwenden, „ich gestehe zu, dass an unserem Verständnis des Verstehens etwas im Argen liegt, aber ich kann nicht warten, bis die gewaltfreie Kommunikation in der Republik der Geister hergestellt ist. So lange nicht offenkundig wird, was diese Änderung der Gesinnung praktisch für die Dichtung heißen könnte, bleibt für mich die Debatte von rein theoretischem Interesse, insofern ich mich ja auch bspw. durch eine ungesunde Struktur des Lyrikmarktes nicht davon abhalten lasse, mich in meiner Weise mit Gedichten zu beschäftigen.“
Mit diesem praktischen Erweis hat es nun so seine Schwierigkeiten, denn die Hermeutiker haben sich wie die Spinne in ihrem Rad eingerichtet, sodass sich jedes anfliegende Argument im Netz der von ihnen aufgespannten Begriffe verfangen wird.
Es handelt sich ja nicht um einen Streit zwischen wohldefinierten Termini, deren Logik man untersuchen könnte, sodass derjenige, der dagegen ankommen möchte, nicht einmal die Mittel der Vernunft sicher auf seiner Seite weiß, insofern er gegen eingeübte und gewohnheismäßige unwillkürliche Gedankenübergänge und Bilder vorgehen muss. Ich werde es dennoch mit den Mitteln der Schrift versuchen, auch wenn ich mich damit in eine ähnliche Verlegenheit bringe wie einer, der ein Handwerk nicht durch praktische Übung, sondern durch die Merksätze eines Lehrbuchs erklären wollte, während man das Töpfern nur an der Scheibe lernt. Ein Beispiel zu geben: Ich schilderte einem Freund Zweck und Inhalt meines Essays: Ich wolle darlegen, dass es Stolterfoht nicht in erster Linie darum ginge, welche Art Gedichte entstünden, dazu seien seine Aufführungen zu vorsichtig und zu unkonkret, sondern dass er eher für einen anderen Umgang mit Texten plädiere. Na, meinte dieser Freund skeptisch, er könne sich nicht vorstellen, dass die Sache nicht auch auf eine Rechtfertigung von Stolterfohts Gedichten hinauslaufen würde. Warum ist dies ein Grund zur Skepsis? Würde dieser Freund der Stolterfohtschen Poetologie mehr trauen, wenn sie nicht (zumindest auch) so seltsame Gedichte wie seine impliziert? Würde man dann nicht seiner Poetologie vorwerfen, sie sei völlig fern seiner Praxis? Wenn mit dieser Skepsis schon mein Stolterfoht lesender Freund reagiert, wie soll es dann bei Leuten stehen, die mit seinen Gedichten Schwierigkeiten haben? Ich finde den skizzierten Dialog aber noch aus einem zweiten Grunde beunruhigend: Wenn jemand seine Poetik praktisch werden lässt, bekommt er offensichtlich ein systematisches Glaubwürdigkeitsproblem, dem sich diejenigen, die nur in der Theorie schwadronieren, nicht aussetzen.[40] Germanisten und Kritiker mag das freuen. Mir wäre eine Welt lieber, in der Kritiker und Literaturwissenschaftler gezwungen wären, durch Austauschproben und Umarbeitungen Nachweise für ihre Behauptungen beizubringen[41], wo man sich durch eigene Gedichte schon keinen Überblick über das Woher ihres Sprechens verschaffen kann.
Wo sieht der Hermeneutiker meist zu wenig?
Eine gewisse Übung ist jedoch vonnöten, will man das Geschäft des Hermeneutikers treiben und den Sinn eines Textes herausbringen, die ich nicht jedem gleich zutraue, der dies als eine triviale Vorausssetzung bezeichnet, die kaum der Rede wert sei.[42] Es verlangt eine gewisse Routine im Umgang mit Strophenformen, will man etwa bei verschiedenen Textstellen einer derartig gebundenen Form herausbringen, bei welcher Stelle die Aussage, die sie enthält, schwer zu erreichen war und bei welcher Stelle leicht herzustellen, vielleicht gar nur ein Füllsel ist. (Und man sage nicht, so etwas käme bei den wertvollen Werken, um die allein es dem Hermeneutiker ginge, nicht vor.[43]) Wie wenig eine Hermeneutik leistete, die dazu nicht Stellung zu nehmen in der Lage wäre, mag ein Vergleich aus der Politik nahelegen: Jeder Politiker, egal welcher Partei, wäre entrüstet, wenn wir bestritten, es ginge ihm nicht um eine Gesellschaft, die für möglichst viele lebenswert wäre, seine Sorge wäre nicht auch, dass unsere Umwelt erhalten würde usw. Nur würden wir jeden für einen Deppen halten der keinerlei Intuition hätte, wo etwas ernstes Anliegen, wo Phrase ist. Wie sind die Anliegen gewichtet, die einen Dichter dazu führten hier diese, dort jene Inversion vorzunehmen?[44] Es kann zumindest Streit darüber auftauchen, welche (ob überhaupt) inhaltliche Funktion sie trägt.[45] Wo ist ein „freier Rhythmus“ ein freier Rhythmus, wo angehübschte rhythmische Prosa und wo einfach nur umgebrochen? Auch solche Entscheidungen setzen praktische Erfahrungen voraus. Und wen solche altmodischen Dinge nicht interessieren: Wie leicht kann man in Gedichten einer schwammigen Aussage scheinbare Tiefe verleihen, indem man ostentativ auf die Selbstbezüglichkeit des Textes verweist! Eine Tiefe, die von Hermeutikern gerne in fremden Texten ausgewaidet wie in eigenen inszeniert wird, obwohl der Hauptanteil an diesem Bedeutungszuwachs dem Leser zuzurechnen ist, der eben den Text so liest und dies auch mit vormodernen Texten tun kann, die einen solchen Leser noch nicht im Sinn hatten.[46] Warum ist es so selbstverständlich, dass sonst jede andere Fähigkeit im Deutschunterricht auch praktisch gelehrt wird, ob wir sie brauchen oder nicht? Der Normalsterbliche wird nie wieder einen argumentativen Aufsatz über ein philosophisches Problem schreiben, er wird nie wieder seine syntaktische Kompetenz nutzen, um solche Schachtelsätze zu bilden, wie er zu beherrschen gehalten war, als sie behandelt wurden. Nur beim Gedicht sollte solche Praxis plötzlich keinen Sinn haben?[47]
All dies ist letztlich schwer abprüfbares Know How, es sei denn im praktischen Tun. Ich will damit keineswegs sagen, dass man noch mehr wissen und lehren sollte, dies mag manchem zwar wünschenswert scheinen, aber „noch größere Anstrengungen“ haben auch den real existierenden Sozialismus nicht gerettet, ich meine, man sollte Anderes lehren. Wer die Winterreise verstehen will, kommt sicher besser hin, wenn er einiges über Verse zumindest intuitiv erspürt, über Literaturepochen und ihre Hauptvertreter z.B. muss er dafür nicht Bescheid wissen.[48]
Für den Hermeneutiker schrumpft diese Einlassung sogleich zu der Feststellung zusammen, dass ich ein besonderes Gewicht auf die handwerklichen Aspekte der Lyrik legen wolle[49] und er wird zugeben, dass man darüber eben unterschiedlicher Ansicht sein kann. Zweierlei wäre daran allerdings nicht sehr treffend. Das erste: Handwerk trägt immer einen Ruch von „schulmäßig“, dabei hatten wir nahegelegt, das das gerade für das handwerkliche Know How, gegenüber dem Know That der hermeneutischen Schulen, nicht gilt. Außerdem würde es an meinen Ausführungen insofern vorbeigehen, als ich sie als eine Plausibilisierung der Stolterfohtschen Position aufgefasst wissen will. Und Stolterfoht hatte sicher mit seinen Texten nicht vordringlich gemeint, man solle mehr Metrik treiben etc. (Unabhängig davon, ob er das trotzdem findet oder nicht.) Die Gemeinsamkeit dieses Aspektes des Handwerklichen mit Stolterfohts Ideen besteht darin, dass er „Verstehen“ im von ihm angegriffenen Sinn als eine praktische Tätigkeit neben anderen betrachtet. Wenn er der „Unverständlichkeit“ seine Sympathie entgegen bringt, wünscht er nicht notwendig Texte, die komplexer sind, sondern sagt nur: „Wir sollten andere Dinge mit ihnen tun, z.B. unser Verstehen verstehen.“
Wo das bereits kartierte Gebiet ausläuft
Wenn man die Debatte verfolgt, fällt auf, dass für unverständlich erklärten Texten oft mit unsachlicher Ablehnung, ja Genervtheit, manchmal Wut begegnet wird.
Ich kann mir solche Wut nicht anders erklären als dadurch, dass der Interpret einen unverständlichen Text fälschlich als Angebot versteht, das bis zum Ende interpretiert werden will. Also würde Unverständlichkeit ein Ergebnis der Autorenstrategie, so viel in einen Text hineinzupacken, dass man es unmöglich herausbringen könnte. Der Leser mit dieser Auffassung wäre nun zu Recht enttäuscht, wenn er feststellte, dass dies Herausholen trotz energischster Versuche unmöglich ist. Er wäre zu recht enttäuscht, selbst Stolterfoht räumt dies ja ein, wenn er „Hineingeheimnissen“ als eine verfehlte Schreibstrategie charakterisiert.[50]
Wir müssen uns Unverständlichkeit eben auch als einen Zustand denken, der nicht durch Komplexität entsteht, sondern auf andere Weisen. Der Nachweis, dass etwas nicht sehr komplex ist oder doch weniger komplex, als es uns zunächst erschien, ist damit noch kein Nachweis mangelnder Textqualität. Und: Wenn wir bei einem Text nicht gehalten sind, uns an eine schweißtreibende Interpretationsarbeit zu machen, ist es nicht unbedingt ein Einwand gegen diesen Text, wenn der Autor selbst vergleichsweise wenig Arbeit damit hatte.[51]
Wir hatten gesehen, dass wir jede Eigenschaft, über die wir mit Bezug aufs Verstehen reden wollen, erst einer Klärung unterwerfen bzw. umdeuten müssen. Deswegen kann der Nebel, der über dem Archipel dessen liegt, was mit der von Stolterfoht angezielten Praxis gemeint sein kann, nicht vollständig gelichtet werden.[52]
Manchem hat der hermeneutische Missbrauch, oder auch das Scheitern am unverständlichen Gedicht den Begriff Verstehen auch so zuwider werden lassen, dass ihm wenn schon nicht das Verstehen an sich, so doch jede abschließbare Prozedur im Umgang mit Texten verdächtig wird als ein Stillstellen und Einbetonieren des lebendigen Flusses der Lyrik des Lebens etc. Hier bestätigt sich die klassische Hermeneutik selbst, indem sie als kranke aber eingespielte Praxis uns immer wieder Anlass zur Skepsis gibt, angesichts eines instrumentellen Zugriffs auf Welt gleich welcher Art.
Um als letztes dennoch einen kurzen Blick darauf zu wagen, welche Geländeteile die vom Hermeneutiker gezeichnete Karte des Gebiets nur unzureichend darstellt, sei noch an eine andere Praxis erinnert. Wie viele Kinder haben in ihrer Jugend Stunden um Stunden über Atlanten verbracht. Wäre es nur darum gegangen, von fremden Ländern zu träumen, hätten Abenteuerbücher oder Bildbände diesen Zweck besser erreicht. Es wird auch um Formationen und Vergleiche gegangen sein, auch wenn der Jugendliche diese unter der Metahper von erträumten Entdeckungsreisen oder Eroberungszügen phantasiert. Eine Praxis also, die derjenigen gleicht, die andere Jugendliche vor Datenblättern und Leistungstabellen hängenbleiben ließ. Mag unsere Dichtung solchen Leidenschaften auch hie und da nicht besonders entgegen kommen, so muss eine adäquate Beschreibung der Praxis des Textverstehens auch diese Kulturtechniken ernst nehmen und Geistesfreuden im Umgang mit Symbolen umgreifen, die auf keinen Witz wie eine greifbare „Aussage über“ oder „Geschichte von“ hinauslaufen. Und zwar ohne dass man sie nur dann ernst nimmt, wenn man behaupten kann, dass sie an etwas Wichtiges oder Heiliges wie „das Transzendente“ oder „das Unaussprechliche“ rühren, etwa indem man ein Gedicht (allermindestens probeweise) nicht als ein Wesen betrachtet, in dem alle Teile und nur diese aufeinadner bezogen[53] sind und das der Ergründung bedarf, sondern als einen offenen Stapel von Sprachstrategien. Goethes „Erlkönig“ muss nicht als Ballade sondern kann als Stapel von „Etwas ist etwas Anderes“-Operationen aufgefasst werden, Texte von Gadamer oder Heidegger erschließen sich anders wenn man nicht davon ausgeht, dass sie auf ein in sich einheitliches Sinnziel hinauslaufen. Man kann z.B. jedes Mal, wenn sie eine Abstraktionsebene hinauf und später wieder hinunter gehen fragen, von welchem Gegenstand sie davor und danach handeln.[54] So kann man sich den Gang des Textes vorstellen wie die Erkundung eines großen Gebäudes, dessen Außentüren verschlossen sind, sodass die unterschiedlichen Zimmer und Treppenhäuser nur von oben zugänglich werden. Anschließend mag man darüber phantasieren, welche Zimmer der Text erreicht hat und welche Zimmer es noch geben müsste, obwohl sie nie betreten wurden.
Man kann wie ein feilender Übersetzer den Versuch unternehmen, ein Wort durch ein in einem Zusammenhang passenderes zu ersetzen und jedes Mal, wenn es wieder auftaucht, dieselbe Ersetzung vornehmen. Man kann einer Stelle durch solche Ersetzung einen anderen Sinn verleihen und schauen, ob diese Ersetzung einen dazu passenden Sinn auch an anderen Stellen erzeugt usw.[55]
Vieles ist möglich, ohne dass es für das Weiterdichten einer besonderen Gabe bedürfte.
Zum Ausgang zurück: Eine abschließende Frage
Für mich bleibt eigentlich nur eine Frage an Stolterfoht nicht ganz beantwortet: Wenn das Feld des Gedichts nicht mehr so aufgeladen ist, nicht mehr so ein Sonderreich sondern nur eines der Felder, wo die Sprache agiert, warum sollte man das „sich selbst Verstehen“ des Gedichts besonders vom Feld des Lyrischen abfordern? Warum sollte man gerade hier das „nicht oder kaum Verständliche“ besonders begrüßen? Für einen wenig wohlwollenden Betrachter könnte es folgendermaßen aussehen: Der Dichter erpresst uns zunächst mit den hermeneutischen Imperativen zur Anstrengung, die gewisse Schulen aufgebracht haben, um hernach zu bestreiten, was diese Schulen sagen. Eine doppelte Verarsche sozusagen.[56] Der wohlwollende Betrachter bemerkt, wie unaufgeregt und entspannt die Stolterfohtsche Position sich darstellt, bleibt aber ebenfalls gehalten, sich nach der in beiden Texten ungenannten Stütze der Argumentation umzusehen:
Der Anspruch, den Ulf Stolterfoht im Bella Triste Text erhebt, lässt sich leicht mit Roman Jakobsons „Poetischer Funktion“ zur Deckung bringen: Es ginge also darum, das Medium zum Thema zu machen. Zwar legt schon der Name nahe, diese Funktion zuvorderst dem Gedicht abzuverlangen. Es scheint mir jedoch nicht zwingend. Und Ulf Stolterfoht wohl auch nicht so recht.[57] (Wenn er die Punkte selbst bezeichnet, an denen seine Argumente in der Bella Triste etwas wackelig werden, weil er versucht, ohne das Jakobsonsche Fundament auszukommen, empfinde ich das als sehr ehrlich, man ist das leider nicht gewöhnt.) In der sprachanalytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts gibt es zahlreiche Diskussionen, die darauf hinauslaufen, so könnte man es in diesem Zusammenhang zusammenfassen, dass selbst in dieser um präzise Begrifflichkeit bemühten Denkrichtung nie ganz klar ist, wo die poetische Funktion aufhört und wo die phatische beginnt. Ganz abgesehen davon, dass auch die Trennung der Metasprache von der Objektsprache so ihre Tücken hat, die bis in die Grundlagen der Logik hinabreichen. Jeder sinnvollen Rede wäre so ein Rekurs auf die Bedingungen des Sprechens untermischt. (Wittgenstein schlug ebenfalls mit anderen Argumenten vor, alle philosophischen Themen in Normalsprache zu erledigen. Nicht jeder hatte dafür Verständnis.) Selbst diejenigen, die trotz aller aufgetauchten Schwierigkeiten hartnäckig weiter an der schönen (?) Idee festhalten, man könne der Sprache durch solche genauen Distinktionen ein Fundament unterlegen, dass den Sinn einer rationalen Rede unverbrüchlich gewährleistet, haben sich doch angewöhnt Sätze wie den folgenen für richtig zu halten: „Wahrheit und Falschheit einer Aussage sowie die Bedeutung eines Terminus lassen sich nur innerhalb der aufeinander bezogenen Aussagen einer Theorie beurteilen, außerhalb dieser werden solche Fragen sinnlos.[58]“ Selbst in der strengsten Wissenschaften derer wir fähig sind, bleibt es also so, dass die Rede den Sinnhorizont mit herstellt, der Text zumindest seinen Code bahnen hilft. Anders gesagt: Wir müssen immer ins kalte Wasser springen. Jeder Text lässt auch zum Thema werden, wie er spricht. Nur trägt es unterschiedlich weit, dies zu verfolgen, gar ein ästhetischer Reiz wird sich nicht immer einstellen. Eher vielleicht bei Gedichten oder mathematischen Theorien, seltener bei Gebrauchsanleitungen, vielleicht eher bei deren Übersetzungen. Das nicht, kaum oder nicht richtig Verstandene wird unsere Neugier oftmals reizen, nicht in jedem Text werden wir diesen Zustand begrüßen, aber wir leben ohnehin damit.
Dass aber, bei aller Sehnsucht nach Verständlichkeit, der Gernhardsche Humor sicherlich nicht das Maß aller Dinge sein kann, insofern unzählige Dichter solcherart Texte zu schreiben in der Lage wären, dass also hier Aspekte von Geschmack, Glaubwürdigkeit und Konvergenz mit den eigenen Einstellungen ungerechtfertigter Weise hinzutreten müssten, wollte man aus der möglichen Masse dieses oder jenes auswählen, dass solche Auswahl also im merkwürdigem Gegensatz dazu steht, ein wirkliches „Best off“ herzustellen, und das wir uns eine Lyrik wünschen, die in irgend einer Weise „weit trägt“, das alles dürfte doch Konsens sein.
Wie fern Ulf Stolterfoht jedenfalls den mancherseits üblichen Umgangspraktiken mit Texten steht, deutet er nicht allein durch Worte wie „Rat- und Hilflosigkeit“ an, sondern auch dadurch, dass er sich für unfähig erklärt an diesen im Falle des Jahrbuchs wirklich konstruktiv mitzuwirken.
„Beschluß // Dahero denn zu hoffen ist, dass die gemeine persuassion von denen Hexen[59] endlich wieder zu Grunde gehen werde; und dannhero nicht nöthig ist, daß wir viel von denen ersten Irrthümern, aus welchen diese Einbildung entstanden, und wie ein Irrthum aus dem anderen gekommen, wie auch von denen Verhinderungen, welche denen ersten Wiedersachern solcher Irrthümer, als dem Wierio[60] etc. entgegen gewesen, sprechen, und wie es kommen sey, dass sie nicht viel ausrichten können.“
[1] „Zum Wesen des Tabus gehört es, dass es ein Stillschweigen über etwas gebietet, was zwar gewusst oder geahnt, aber unausgesprochen bleiben muss. Das „Muss“ ist dabei einer gesellschaftlichen bzw. kulturellen Konvention geschuldet, einer Übereinkunft, der man anthropologisch oder soziologisch verschiedene Funktionen zuschreiben mag, die aber als historisch entstandene keine Absolutheit beanspruchen darf. Die Tabuübertretung ist, so besehen, der Ausbruch aus einer Konvention, der deshalb geahndet wird, weil die schiere Konvention für unantastbar erklärt worden ist. Das Problem mit dem Einhalten des Tabus beginnt indes dort, wo sich die Konvention als in partikularem Sinne interessengeleitet, mithin als im Wesen ideologisch erweist. Ein solcher Tabubruch wirkt sich als narzisstische Kränkung der Konventionsplatzhalter aus, eine aggressionsfördernde Kränkung, die sich ihrerseits dem Ärger über den – dem ideologischen Eigeninteresse der Platzhalter durch besagten Tabubruch – zugefügten Schaden verschwistert weiß.“ Mosche Zuckermann
[2] Christiane Kiesow stellt zu meinem Kommentar zur Debatte die Frage: „Aber hat sein Beitrag das „Stolterfoht‘sche Theorem“ wirklich plausibler gemacht?“ und gibt sich selbst die Antwort: „Ich finde: noch nicht ganz.“, was so viel wie „gar nicht“ bedeutet. Bemerkenswert ist, dass sie hier kokett einräumt, dass es sich bei der Stolterfohtschen um eine durch theoretische Prozeduren gesicherte Position handeln könnte, was sie am Ende ihres Textes bestreitet. Mein Text ist dem ihren und der folgenden Diskussion insofern verpflichtet, als sich zeigt, wie systematisch sich die Kontraposition auf eingeführte Ideenverbindungen verlassen kann, sodass die essayistische Verknappung, mit der die Debatte bisher geführt wurde, allenfalls daran kratzt. Zudem bringt ihr Text Aspekte ein, an die ich beim Verfassen meines ersten Debattenbeitrags nicht gedacht hatte. Auch dieser erneute Versuch wird nicht mehr geben können als die Essenz des Problems, „weil man sonst zu einer weitläufigern und gelehrter ausgeführten Abhandelung dieser Dinge ein grosses Werck zu schreiben nöthig hätte, welches aber die Gräntzen dieser disputation überschreitet.“ ( Hans Christhian Thomasiens … historische Untersuchung … Worinnen deutlich erwiesen wird /Daß der Teufel / welcher nachbuhlet … nicht über anderthalb hundert Jahr alt sey)
[3] Außer in den Fußnoten
[4] Christiane Kiesow ist in ihrem Beitrag klug genug zu sehen, dass es nicht den wesentlichen Witz herausarbeitet, wenn man sagt, es ginge Stolterfoht darum, „seine Kunstkriterien zu nennen“, indem sie zweifelt: „Vielleicht ist es aber auch am Ende so, dass Stolterfoht uns insgeheim alle an der Nase herumgeführt hat“.
[5] Wie auch Ögyr eine Sonderwesenheit des Gedichtes behauptet „Es begibt sich außerhalb des Verstehenszusammenhangs von Sprache und zeigt so die Sprache als eine Seinsform, die gleichsam unerbittlich Sinn schafft, wo nur ein Wort steht.“
[6] Man entschuldige hier zunächst diese (nicht jedem) intuitive Formulierung.
[7] Jahrbuch der Lyrik 2009
[8] Der Wittgensteinphilologe verzeihe die etwas lax informelle Zusammenfassung seines Programms
[9] Ob euklidisch oder nicht
[10] Eine Konsequenz, gegen die sich Steffen Popp zur Wehr setzte (Bella Triste 18), obwohl er sich mit den in die Schlagworte Praxis und Lebensform geronnenen Konzepten einhellig erklärt, obwohl er über einen erweiterten Mimesisbegriff verfügt und obwohl er darauf hinweist, dass die bildende Kunst ein so naives Verhältnis, wie Stolterfoht ihr um der Prägnanz willen unterstellt, längst nicht hat. Mit Thomasius gesprochen. „ …[Der Verfasser] bedauret zwar, dass der auctor mit großem doch blinden eyffer, die in der allegierten dissertation fürgetragene Warheit anzugreiffen und umzustossen sich unterstanden; allein, da die Erfahrung gelehret, daß durch dergleichen Schriften nichts als die Blösse des gemeinen Irrthums mehr und mehr entdecket, und die Wahrheit durch solche Verfechter der gemeinen Irrthümer fortgepflanzet wird, so erzörnet er sich nicht über denselben, sondern empfiehlet ihn nebst anderen seinen Mitbrüdern, der Barmhertzigkeit Gottes welche er selbst nun schon einige Jahre her, bey seinen eigenen Vorurtheilen sattsam gespüret hat und zwar von Hertzens Grunde“ Thomasius ebenda
Christian Schloyer in seinem Vermittlungsversuch möchte wohl genau auf diese Konsequenz hinaus, wenn auch in einer Sprache (der Wittgensteinianer hätte es vielleicht geahnt), die sich als missverständlich erwies: “der Lyriker, der sein Arbeitsmaterial wirklich kennt, weiß, dass Sprache nicht als Träger einer außersprachlichen Bedeutung fungieren kann. Er weiß, dass alle Gegenstände, die in der Sprache benannt sind, sprachliche Gegenstände sind – und keine darüber hinaus materiellen, mystischen oder subjektiv-emotionalen Dinge einer Außen- oder Innenwelt.”
[11] Einem Satz wie dem von Christiane Kiesow: „eine fremde Zunge … kann man nur simulieren. Nicht erlernen. Nie erfahren“ lässt sich etwa Wittgensteins Dialog entgegen setzen: „’Wie soll ich ihn verstehen, ich habe doch nur seine Zeichen?” Wie soll er sich selbst verstehen, er hat doch auch nur seine Zeichen’“
[12] Es sei allerdings auch nicht verschwiegen, dass Wittgensteins Verstehensbegriff nicht nur diese freundlichen Seiten hat. Eine Implikation ist, er gebraucht selbst dieses Wort, dass Sprachkompetenz sehr viel mit Abrichtung zu tun hat. Jedem aufrechten Humanisten sträuben sich die Haare und es ist ehrenhaft, sich gegen diesen Schluss zu wehren, es bleibt allerdings die Frage, inwieweit dies mit einem Darüber-Hinwegtäuschen zu tun hat.
Der Hermeneutiker weiß, dass Verstehen problematisch sein kann und verlegt das in den Urgrund des Verstehens. Wittgensteinianer empfinden „Verstehen“ zunächst als ein Wort für etwas gar nicht Geheimnissvolles und sehr Normales. Noch ist dies weder natürlich und wird problematisch insofern jahrelanges Training darin involviert ist. Ich lauschte mal einem Gespräch zweier offensichtlich wenig sprachkundiger Jugendlicher. Der eine fragte: „Und was war an der Pizza so toll?“ Der andere geriet ins Stocken und konnte nur mehrfach wiederholen „Mit allen Schikanen, Du“. Ich musste an mein Deutschheft aus der ersten oder zweiten Klasse denken, in dem ich Übungen zum Thema „Beschreibe einen Gegenstand“, „Beschreibe einen Vorgang“ löste.
[13] Die folgende Kritik wird dem Wittgensteinianer recht lasch und dazu wenig subtil vorkommen. Ich setze mir in diesem Teil jedoch auch nicht Wittgensteins hohes Ziel, unsere Praxis so lange zu beobachten, bis wir zu besseren Annahmen darüber kommen, wie wir insgesamt unsere Sprache besser ordnen, sondern vorläufig ein geringeres: Ich möchte eine historisch empirische Praxis anhand ihrer Selbstäußerungen kritisieren, um das so gewonnene Argument dann später in einen größeren Rahmen einbringen zu können.
[14] Hier können meine Ausführungen Stolterfohts Position auch dann erhellen, wenn er nicht jeder meiner Feststellungen zustimmt.
[15] Wer von vornherein nicht glauben mag, was ich hier versuche zu argumentieren, nämlich dass eingespielte Gewohnheiten und Reflexe für den hermeneutischen Verstehensbegriff konstitutiv sein könnten, darf zum Kapitel „Wo das kartierte Gebiet ausläuft“ springen. Bis die anderen fertig sind, darf er sich damit beschäftigen die operationablen Leistungen des Verstehensbegriffs hinzuschreiben, die diese erfunden und nicht nur aus älterer Theorie übernommen haben.
[16] Wenn also Schüler ihren Deutschlehrer angreifen, „weil doch eh alles subjektiv“ sei, dann irren sie sich weniger über das, was der Fall ist, sondern sie sind dreist (meinetwegen: ignorant). Sie werden aber immer so behandelt, als wäre falsch, was eigentlich unhöflich war.
[17] Da wäre die unten geforderte Praxis in lyrischen Verfahren sehr vier ehrlicher.
[18] Je misslicher die instrumentelle Praxis ist, desto mehr Plausibilität wächst der Annahme zu, dass jegliche instrumentelle Vernunft irgendwie von übel sei, obwohl der Übergang vom einen zum anderen noch eigens der Rechtfertigung bedürfte.
[19] Man denke die teils völlig verdrehten Debatten um das „Politische“ im Gedicht. Auch dieser Text wird zahlreiche weitere Beispiele paradoxaler Rede aufweisen. Wie einem streitenden Ehepaar kommt dem Diskurs nach und nach die vernünftige Rede abhanden.
[20] In Staigers „Kunst der Interpretation“, weil ich sie zufällig bei der Hand habe.
[21] Über den sonstigen Nutzen oder Schaden dieses Buches heißt diese Aussage wenig.
[22] Die sich für Literatur nicht interessierten, traf es härter aber auch: Kein Wunder, wenn sie andere Interessen entwickelten.
[23] Solche Indoktrinationen müssen nicht sämtlich aus dem Literaturunterricht herrühren, es gibt da durchaus noch andere, vielleicht machtvollere Instrumente. Die Verstehensintoxikation scheint mir besonders perfide, insofern sie sich an das freie Subjekt mit Übersicht zu wenden scheint.
[24] Was man an Wendungen wie „um es vorsichtig zu sagen“ ablesen kann.
[25] Und in Stolterfohts Bella Triste-Essay ist dies gar der einzige Sinn von Lyrik
[26] Ich persönlich glaube nicht recht an den Unterschied zwischen normaler Wissenschaft und Paradigmenwechsel, sondern halte es mit Sneads Radikalisierung der Kuhnschen Position, die diesen Unterschied relativiert.
[27] Auf dies Problem nachklappernder Praxis hat Enzensberger in seinem Aufsatz „Ein bescheidener Vorschlag zum Schutz der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie“ auf pointierte Weise aufmerksam gemacht. Und insofern Zeitungen heute eher Leute entlassen als frischen Absolventen eine Perspektive zu bieten und die Kultusminister oftmals der Ansicht zu sein scheinen, Einstellungsstops seien ein probates Mittel gegen Lehrermangel, dürfte dies Problem sogar deutlicher hervortreten als seinerzeit. Es ist außerdem zu beobachten, dass die Fachdidaktiker, die zunehmend für das Curriculum der Schulen zuständig sind, zwar in Bezug auf Unterrichtsformen, zwar vielleicht in Bezug auf den Textkorpus, nicht jedoch in Bezug auf die generellen theoretischen Horizonte der Literaturwissenschaft immer Schritt zu halten vermögen. Zudem ist es glaubwürdig, wenn junge Lehrer selbst davon sprechen, dass sie nach der Ausbildung ins kalte Wasser geworfen wurden. Mancher mag, allein gelassen, sich der probaten Mittel seiner eigenen Lehrer entsinnen.
[28] wie das denn hie und da selbst an guten Unis der Fall sein mag.
[29] „Dieses ist dem menschlichen Geschlechte gantz gemein, daß man von Jugend auff in dem Vorurtheil menschlichen ansehens stecket, und sich einbildet, daß die gemeine Meynungen wenn sie auch gleich noch so irrig, jederzeit für wahr gehalten worden, ja man erzörnet sich über diejenige welche das Gegentheil solcher Irrthümer gantz klährlich zeigen.“ Hans Christhian Thmasiens … historische Untersuchung … Worinnen deutlich erwiesen wird /Daß der Teufel / welcher nachbuhlet … nicht über anderthalb hundert Jahr alt sey
[30] Summarisch verwiesen sei auf einige Spielarten der Postmoderne, etwa beruht auch Susan Sontags Rhetorik wider die Interpretation im wesentlichen auf der Nutzung der durch die Hermeneutik bewirkten Aufspreizung und Überhöhung von Begriffen (anders z.B.: Culler, Goodman). Erwähnt sei ein radikaler Marktskeptizismus der die inneren Widersprüche der Hermeneutik auszunutzen trachtet, um Sätze wie den folgenden plausibel zu machen: „Der Markt ist inzwischen so allmächtig, dass er jeden Widerstand zu seiner eigenen Beschleunigung verwertet, sodass Nichtstun die bessere Opption ist.“ eine hoch verantwortungsvolle, hochreflektive Haltung, die den Vorteil hat, dass man bequem weiterleben kann wie bisher. (Marxismus als Dämon in der Uhr.) Nichts tun konnte man übrigens in der DDR schon.
[31] Bis vor kurzem durften nur noch Wirtschaftsgrößen Visionäre sein. Zu anderen Zeiten waren das Dichter, Philosophen oder katholische Mystiker.
[32] In Seminarräumen habe ich jedoch gesehen, dass es gelegentlich unvermittelt hochkochen kann. (Wenn dem Dozenten die Argumente knapp zu werden schienen. So jedenfalls mein Eindruck.)
[33] So verwehrt die Preußische Zensurordnung 18.10.1819 das „Herüberziehen von Religionswahrheiten in die Politik“, um der „dadurch entstehenden Verwirrung der Begriffe entgegen zu arbeiten.“
[34] Da sichert mit verharmlosenden (z.B. allgemein menschlichen) Ausdeutungen der Literaturwissenschaftler erstens seinen Job nämlich die Fortsetzung des unverbindlichen Gesprächs. (z.B. Gadamer oder Menninghaus über Celan)
[35] Der Jugend gesteht man es noch zu, die hat keine Macht und irgendwie ists ja auch belebend. Es bleibt ja auch immer noch die Notbremse, sie unerfahren zu nennen.
[36] Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.
[37] Ich verstehe hier also ähnliches, wie Christian Thomasius, der in „Kurtze Lehrsätze von dem Laster der Zauberey“ eine seinerzeit beliebte Argumentationsfigur folgendermaßen angreift:. „Jedenoch kann ich nicht, nur dieses noch zu berühren, daß man auch vor ein besonderes Kennzeichen der Zauberey halte, wenn beschuldigte Personen grosse Merckmale äusserlicher Gottesfurcht von sich versprühen lassen … Alles ist zugelassen, [beim Verdächtigten] aber nicht die Gottesfurcht. Vielmehr bekräfftiget dieses abgeschmackte Kennzeichen der Zauberey dasjenige, was wir droben beobachtet haben, nämlich daß die päbstliche Clerisey das Laster der Zauberey deswegen erfunden, damit sie die ihnen gehäßige Gottesfürchtigen Leute unter den Schein der Greschtigkeit und eines göttlichen Eifers aus dem Wege räumen möchten.“ Ich nehme die Hermeneutik beim Wort und stelle sie in ihre Jahrhunderte alte Tradition. Im Ernst: Diese Strömungen haben sich offensichtlich nie gänzlich von ihren Eierschalen im theologischen Diskurs befreien können. Das gehört nicht auf das Katheder.
Ebenso unbehaglich wird mir bei einer Behauptung wie der folgenden: „Das Gedicht schafft Klarheit, indem es vernebelt, verdüstert, indem es sich dem verweigert, was es spricht. So versteht man es erst, wenn man es missversteht.“ (Ögyr; seine Äußerungen auf dem Feld der poetologischen Rede scheinen mir nicht recht zu seiner auf Alltäglichkeit abgestellte Arbeitsweise zu passen.) Sie stellt das Gedicht als Unmögliches Mögliches dar, ein Paradox, dass erst dadurch Sinn gewinnt, dass man es in eine Erzählung vom Gedicht einbettet. Die Art von Erzählungen, in die so ein Satz sich einpassen lässt, zählt zu denen mit sujethaftem Plot (nach Lotmann): In den Möglichkeitsraum einer Geschichte wird eine Grenze gezogen, die nicht zu überspringen ist. Dem Held gelingt dies doch. Um dies glaubhaft zu machen, muss er sich durch besondere Eigenschaften, Tugenden usw. vor allen anderen auszeichnen. Eine solche Erzählung entrückt also das Gedicht der Sphäre dessen, was ein Normalmensch leisten kann.
In diese Sphäre gehören auch alle Ansätze, die vom Begriff der Inspiration heftig Gebrauch machen oder von der Verlegung des Gedichts in einen quasireligiösen Bereich (Wie jüngst Norbert Hummelt in „Wie ein Gedicht entsteht“). Der wittgensteinisch geprägte Denker möchte immer versuchen, hier eine geheime Gemeinsamkeit der Sprachpraxis aufzufinden, die aus gemeinsamen Erfahrungen, ähnlicher Erziehung etc. herrührt. Eine Unterschätzung des Werts der individuellen Persönlichkeit, möchte man denken. Nur: Mir kommt das Aufrichten eines hohen Begriffs der Persönlichkeit, das die Hermeneutik betreibt, immer wie das Gegenstück einer allgemeinen Praxis vor, die gerade darauf keine Rücksicht nimmt. Die Psychoanalyse spräche von Überkomposition. Da dieser Wert der Persönlichkeit in der Praxis kaum eine Rolle spielt, beschränken wir diese Ehre nur allzu gern: Auf die Großen der Kultur, im gesunden Fall auch auf uns selber, beim gemeinen Mitmenschen sind wir schon skeptischer.
Und der Mensch, dessen Charakter vor allem durch Umgang geprägt ist und nicht durch das Schicksal seiner Seele, muss nicht so unindividuell sein, wie es die Metapher zunächst nahelegt. Wer nur Zucker in Fett erhitzt, erhält ein Stoffgemisch, in dem bereits hunderte sehr individuelle Verbindungen enthalten sind, die der Chemiker weder vorhersagen noch ohne weiteres beschreiben kann. Sollte nicht der komplexe menschliche Geist der Individualität fähig sein, auch wenn er sich als hauptsächlich durch Einfluss gewordenen beschreibt? Wir brauchen hier nicht zu warten, bis die Philosophen sich über eine Theorie des Selbst geeinigt haben: Eine andere Sicht ist uns in all den Fällen lieber, wo wir uns zu Recht gegenseitig darauf verpflichten, Verantwortung zu übernehmen. (Deswegen gehen die Inanspruchnahme eines hohen Begriffs von Inspiration und die Betonung des Wertes des lyrischen Ich bei Norbert Hummelt wohl nicht zufällig zusammen) Was ich hier nur sagen möchte: Wir sollten, wenn wir uns ein praktikables Konzept von Verstehen machen, so vorgehen, dass wir das, was daran geheimnisvoll sein mag, nicht gleich zur Grundlage dieses Konzeptes machen, sondern zunächst das Offenliegende, Beschreibbare.
[38] Etwa aus dem gleichen Grund, wie man am besten einen feinen Anzug trägt, wenn man im Supermarkt klauen will. In diesem Lichte gelesen wird auch Hans Thills Satz „Ist die verständliche Welt eine Verheißung der niederen Pädagogik, so gestaltet sich das verständliche Gedicht als Pennälertraum.” etwas düsterer: Wir kennen alle solche ambitioniert anstrengenden Abiturienten. Beim Kulturredakteur der großen Tageszeitung mag ein ähnliches Syndrom vorliegen. Wir sind aber nicht in der Lage dies zu durchschauen oder wir getrauen uns nicht. Ich finde es nicht sehr geschmackvoll, dass Hans Thill das Aufzeigen des Schülers ein wenig so aussehen lässt, als folgte er nicht einer schulischen Erwartungshaltung, sondern als wäre es seine Obsession , um anschließend über diesen Musterschüler die Nase zu rümpfen, weil er so unverständig sei, das Verständnis erworben zu haben, mit dem man ihn (über) 12 Jahre geködert hat.
[39] Wir können natürlich etwas über die Biografie des Autoren lernen, eine Nuance entdecken die uns verborgen blieb, ästhetischen Genuss an einer guten Interpretation empfinden … Alle diese Gewinne sind aber nicht daran gebunden, dass sich die fraglichen Informationen etc. innerhalb einer Interpretation darbieten.
[40] Auch Christiane Kiesow nutzt diesen Effekt aus, wenn sie am Rande wider mich bemerkt, wie bequem es für einen Dichter sei zu fordern, Verstehen müsse aus praktischen Übungen erwachsen. Aber was war zuerst, die Henne oder das Ei? Vielleicht schreibe ich ja wie ich schreibe, weil ich bestimmte Erfahrungen gemacht habe? Oder um es weniger unter dem Anschein von Dogmatik zu formulieren: Vielleicht sind mein Lesen und mein Schreiben Teil derselben Reise?
[41] Sie würden dann vielleicht zu weniger Bedeutsamkeitsgetue und weniger einschüchternden Formulierungen greifen.
[42] Heidegger z.B. mag man nachsehen, dass er dieses Problem nicht deutlich charakterisiert hat, stand doch seiner herausragenden philologischen Kompetenz ein recht enger Kanon gegenüber, der in lebendiger Praxis tradiert war. Angesichts eines ausgedünnten Deutschunterrichts, dem heute ein größerer und von den möglichen Verfahren her facettenreicherer Kanon gegenübersteht, wird die Fortschreibung der Heideggerschen Haltung unerträglich.
[43] Eine Folge des aufgespannten Widerspruchs: Einerseits erpressen uns die Meistererzählungen der Hermeneutik, ein Gedicht auch da toll zu finden, wo wir es nicht verstehen, andererseits kennt jeder die Erfahrung, sich auch einmal bei Hölderlin gelangweilt zu haben.
Hier ist auch ein Grund für Christiane Kiesows Misstrauen gegenüber der Synonymie zu suchen. (Ähnlich Ögyr: „Das Gedicht sagt, weil man, was es sagt, nicht anders sagen kann.“) Der Hermeneutiker bringt seine Vorstellung von der Integrität des Kunstwerks darüber zum Ausdruck, dass er behauptet, nichts könne geändert werden, ohne das geheimnisvolle Ganze zu zerstören. Wer mit anderen seine Versionen auswendig gewusster Gedichte vergleicht, wird öfters kleine Unterschiede in den Fassungen feststellen, ohne dass diese Fassung einem das Gefühl des Unbefriedigtseins vermittelte. Für die eigenen Zwecke kann eine abgewandelte Version durchaus mindestens den gleichen Wert haben wie das Original. Der Hermeneutiker wird einem das sofort als Mangel an vollkommener Einsicht in das Kunstwerk auslegen und dies mag im Einzelfalle ja richtig sein. Würde aber jemand keck behaupten, ein Text wäre auch tatsächlich besser, wenn er es auch in den Augen mehrerer Anderer geworden wäre, müsste er den Beweis schuldig bleiben, dass dem nicht tatsächlich so sein könnte. Dieser Fall tritt kaum ein: Immer findet sich jemand, der sich naseweis auf die Seite der Übersicht (der Macht) schlägt , und einfach behauptet, der Dichter habe mit seinem Original recht gehabt, weil diese Behauptung heutzutage von vornherein plausibler ist. Bei Choraltexten ist der Fall jedoch oft vorzufinden und der Hermeneutiker ist genötigt, die ganze Machinerie der Literaturgeschichte mit seinem Konzept von Vorläufer, Hauptwerk und Nachfahr in Bewegung zu setzen, um die beliebtere Fassung zum „eigentlichen“ Original zu erklären. Eine durch riesige Stoffmassen verdeckte Petitio principii. Die Hermeneutiker haben eine so hochherzige Meinung vom „Gedicht“ etabliert, das jeder der nicht ebenso lobt, sich beinahe gleich verdächtig macht, den Gegenstand entwerten zu wollen …
[44] Thill verweist auf das geheimnissvolle Wissen der Kabbalisten, ich würde auf ihre „verrückten“ Zähl- und Umstellungsverfahren verweisen, sozusagen nicht der Konfirmationsunterricht sondern das Singen des Gesangbuches, die Praxis. Der Religionsunterricht mag lediglich den hermeneutischen Umgang mit Texten als geheiligte Überlieferung unverstellter zum Vorschein bringen als der Deutschunterricht.
[45] „Noch einen Sommer gönnt ihr Gewaltigen/ und einen Herbst zu reifem Gesange mir …“
[46] Oder eben dies nur auf weniger augenfällige Weise zeigen?
[47] Es gehört zu den Gemeinplätzen, dass die Dichtung heute breiten Kreisen unverständlich sei. Diese Sorge wird damit in Zusammenhang gebracht, dass die Verstehensanforderungen, die Gegenwartslyriker an ihre Leser stellen, zu hoch seien. Man äußert die Sorge, dass die Dichtung sich, wenn man ihren Lesern technische Kompetenzen abforderte, in den Elfenbeinturm zurückzöge. Die Lyrik wird verschwinden oder nicht verschwinden, je nachdem, ob die Praktiken der Gedichtlektüre ausgeübt oder nicht ausgeübt werden: Wenn bloß Diskurse verschwinden, die lediglich ihr konfektioniertes Gerede durch einen Bezug auf Dichtung aufwerten, hat das auf das Verschwinden Gedichts keine Auswirkungen. Es dürfte allerdings schon weiter verschwunden sein als jenes allfällige Gerede suggeriert.
[48] Ich kann die Konzepte der Hermeneutik hier nur da hinterfragen, wo sie ihr Geschäft selbst wichtig nimmt und das bleibt das Sinnverstehen. Ich behaupte nicht, dass man die Winterreise nicht auch mögen kann, ohne den Text zu verstehen, nicht, dass man ganz andere Dinge auffassen sollte an Texten usw.
[49] Und meine eigenen Arbeiten könnten ihm diesen Eindruck als richtig bestätigen.
[50] Ich bin prinzipiell mit Christiane Kiesow einig, wenn sie schreibt: „Das Problematische an dieser Idee vom Verstehen ist, dass sie immer schon eine verstehensmögliche Sache voraussetzt. Verstehen ist in diesem Fall ein Prozess, der nur dort funktionieren kann (oder als Missverstehen scheitern), wo etwas Verstehbares vorhanden ist. In der Schule wird uns gewissermaßen die Möglichkeit vorgegaukelt, wir hätten es ständig mit einer potentiell verständlichen „Welt“ zu tun. Eine Welt, deren Nachvollziehbarkeit l e d i g l i c h noch aufgedeckt werden müsse“. Dieses Konzept kann bei einem Gedicht fruchtlos sein. Allerdings halte ich die Probe, ob etwas in der Welt sich irgendwie verstehen lässt, niemals für einen Fehler an sich. Gerade der Deutschunterricht gaukelt ja gerne vor, die Welt sei übermäßig tief und man müsse noch sehr sehr reif werden, hier etwas zu durchschauen. Ihr Leiden an einem Verstehensbegriff lässt sie wie Stolterfoht skeptisch werden gegenüber jedem Möglichen. (Wobei sich diese Skepsis bei Stolterfoht eher darauf bezieht, dass er das Wort aus Sorge vor Missverständnissen vermeidet, sodass er zu Unrecht in Beschlag genommen wird für eine kontemplative Betrachtung der Welt als Wunder, während Christiane Kiesow das Versprechen einer Welt als Wunder sich ausgerechnet dort einlösen lassen möchte. Ich finde die Welt voller Wunder vor, selbst wenn ich mit Lösungsansätzen gerne und schnell hantiere. Vielleicht verdecken die Hermeneutiker mit ihren Gewissheiten manchmal eines? Und sei es ein Technisches?)
[51] Das soll natürlich nicht bedeuten, dass ein Text nicht auch auf die Angewohnheit schielen kann, dass ihm Leser eben interpretierend begegnen. Sei es, dass ein Text seine Intention vor allzu vorwitzigen Interpreten verbergen möchte, sei es selbst, er wolle in die Irre führen. Auch wenn solche Bestrebungen misslich auf den Ruf der ganzen Richtung zurückschlagen: Nur weil das Verstehen der Teufel gesehen hat, sind die anderen nicht gleich Engelchen oder anders: Eine falsche Praxis gebiert eben ihre Perpetuierung.
Hier wäre der Kontext der Milautzkidebatte um Konstantin Ames. Müssen wir die Hoffnung aufgeben, durch Parodien belehrt zu werden, bloß weil die wackelige Praxis noch keine befriedigenden Ergebnisse zeitigt? Was wäre gewonnen gewesen, wenn die Gegner Milautzkis nicht mit hingeworfenen Kommentaren, sondern etwa mit Gegenparodien geantwortet hätten?
[52] Auch wie ein Einbezug dieser Praktiken den Unterricht verändern könnte, kann hier nicht im Einzelnen untersucht werden. Zweierlei sei angemerkt. Einerseits: die alte Rhetorik hatte ihre Schulpraxis. Ich würde unsere Praxis für so schlecht erachten, dass die alte Schulpoetik mir durchaus zumindest in Teilen als erstrebenswertes Reformziel erschiene. Mit Recht verzichtete diese Praxis weitgehend auf ein pseudoobjektives Punkte- oder Benotungssystem. Unsere Schulen werden leider auf diesen Prüfungsrahmen nicht verzichten wollen. Verlegte man sich heute allerdings stärker auf das Bewerten technischer Details der Machart, verschwände zumindest die befremdliche Vermischung von Faktenfragen mit Fragen des Charakter, Fragen des Anstands etc.
[53] Eine Haltung, auf der in den verschiedensten Formulierungen bestanden werden kann: „Dem Gedicht ist eigen, vergängliche Ewigkeiten aufzuspannen in einem ‘auf den Punkt’ Zugesagten.“ Ögyr
[54] Eine ähnliche Übung ist mit dem Unterschied sachlich / pathetisch denkbar: Wie leicht gleitet in beiden Fällen der aufmerksame Leser von einem zum anderen über, denn den Sinn des klassischen Sinnverstehens ändert das eine wie das andere kaum! Wie schwer fällt es dem Beeinträchtigten (z.B. Müden oder Angetrunkenen). Da merkt man, dass hier eine ganz eigentümliche Schwierigkeit vieler Texte darin besteht, dass sie, um verstanden werden zu können, zunächst auf eine Reihe von mitgewussten Hintergrundplausibilitäten setzen, die dann an diesen Übergängen, ohne dass dies weiter angezeigt würde, durch andere ersetzt werden.
[55] Ein Spiel, das auch Urs Allemann mit fröhlichem Anarchismus in Gedichten spielt, führt vom hermeneutischen Sinnbegehren gesehen durchaus zu ernsthaften Ergebnissen, wenn man sich anschaut, was zum Thema Äquivokation und deren Vermeidung in der Literatur geschrieben wurde. „Jedenoch kann ich nicht, nur dieses noch zu berühren, daß man auch vor ein besonderes Kennzeichen des Mißverstehens halte, wenn beschuldigte Personen grosse Merckmale äusserlichen Verständnisses von sich versprühen lassen … Alles ist zugelassen, [beim Verdächtigten] aber nicht das Verständnis. Vielmehr bekräfftiget dieses abgeschmackte Kennzeichen des Missverstehens dasjenige, was wir droben beobachtet haben, nämlich daß die päbstliche Clerisey das Laster des Missverstehens deswegen erfunden, damit sie die ihnen gehäßige verständige Leute unter den Schein der Greschtigkeit und eines verstehenden Eifers aus dem Wege rumen möchten.“
[56] So in etwa mag Axel Kutsch ihn gelesen haben, jedenfalls identifiziert er den Dichter mit jenen, wenn er schreibt: „Stolterfoht und anderen Hohepriestern poetischer Vernebelung ist es geradezu verpönt, dem Leser eine eingängige Zeile ins Nest zu legen.“ Sie sind sich aber einig in ihrer Ablehnung des Hohepriestertums, Stolterfoht wehrt sich explizit gegen „das Geraune“ und „Hineingeheimnissen“. Im übrigen trifft Eingängigkeit hier nicht den Kern, insofern es eingängige Stellen bei ihm so reichlich gibt, dass ein Anführen müßig wäre. Immer wieder: Was mir nicht eingeht oder mir nicht zugänglich ist, muss das nicht grundsätzlich sein. „zwei Hasen verlassen die Sasse“ zitiere ich aus dem Kopf und denke, auch Axel Kutsch könnte sich diese Stelle gut merken. Wer nur Zeilen eingängig fände, die erstens vollständig aufeinander geordnet sind und zweitens ohne Rest unmittelbar in einem Sinnhorizont aufgehen, der entmachtete sich und müsste sich Nothelfer (Endler) wie Breton oder Celan rauben lassen, bloß weil auch Hermeneutiker gern über deren Zeilen raunten. Kutschs Aussage ist rein polemisch. Ich weiß, dass er als Herausgeber und Lyriker ein weiteres Herz hat, als er an dieser Stelle den Anschein erweckt. (Damit man mich nicht missverstehe: Folgenden Satz wird man wohl kaum ernstlich bestreiten. „Allerdings verliert sich dunkle, verschlüsselte, rätselhafte Poesie nicht selten im Schwammigen und Ungefähren.“)
[57] Er trägt die Forderungen seiner Poetologie ja durchaus auch in andere Gattungen hinein, wie seine Essays (?) „Nomentano Manifest“ und „Traktat vom Widergang“ ebenso zeigen, wie das konzisie Vorwort zu „Ammengespräche“
[58] Genau diese Einsicht (die Christian Schloyer wohlvertraut sein dürfte) unterschlägt Peter Geist in Bella Triste 20, wenn er dessen Aussage “Dass es eine fortwährende Zunahme von Erkenntnis gibt, ist gewissermaßen eine ›autonome‹ oder gar ›autistische‹ Leistung der Sprache selbst. In welcher Weise eine mögliche Außenwelt auf unser sprachlich verfasstes Bewusstsein einwirkt, wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, wie viel wir von einer solchen Welt (wenn überhaupt) schon erschlossen haben und ob da draußen überhaupt etwas herumliegt, was man erschließen könnte. Es mag meinetwegen sinnvoll sein, eine nichtsprachliche Außenwelt als Arbeitshypothese anzunehmen (…).” angreift, als müsste in dessen Aussagen das Wort „Bewusstsein“ unbedingt so interpretiert werden, wie es ein Philosoph des 19. Jahrhunderts (Marx? Hegel?) getan hätte. Wenn man dann zusätzlich noch den Sprachhorizont gleich mehrerer anderer Theorien Neurowissenschaften, Kognitionswissenschaften etc. auffährt, hat man es natürlich leicht, Schloyer wie einen ungezogenen Jungen dastehen zu lassen. (Ich freue mich, wenn jemand einmal versucht, die Sprache wenigstens eines aktuellen Theoriekonglomerats auf eine laufende Debatte zu beziehen, insofern leider Universitätsgelehrsamkeit sich leider in der Regel dieser Herausforderung nicht oder lediglich retrospektiv stellt und zweifele leicht, ob Peter Geist dies in Bezug auf die von ihm herbeigerufenen Wissenschaftsbereiche könnte.)
[59] Hermeneutikern
[60] Stolterfoht