5. Ich, Reim und Lyrik

Literarische Welt: Manche Gedichte wirken autobiografisch.

Nora Gomringer: Vielleicht nur, weil ich gerne das verpönte lyrische Ich verwende.

Literarische Welt: Wieso verpönt?

Nora Gomringer: Ich halte es nicht für verpönt, aber ich kenne ein Gespräch zwischen den Lyrikerinnen Sarah Kirsch und Marion Poschmann. Während Sarah Kirsch ganz leicht und offen „ich“ sagt, versteckt sich Marion Poschmann hinter einem „wir“. Ich habe kein Problem mit dem „Ich“ und einem angesprochenen „Du“.

Literarische Welt: Gedichte dürfen sich scheinbar heute nicht mehr reimen.

Nora Gomringer: Wer reimt, steht natürlich in starker Konkurrenz mit den großen Reimenden der vergangenen Jahrhunderte. Ich beherrsche das nicht und bin eigentlich froh, dass die Lyrik befreit ist vom Reim – seit fast hundert Jahren.

(…)

Nora Gomringer: Ich meine sowieso, dass ein Lyrikband perfekt verfilmbar ist. Ich weiß nicht, warum das keiner sieht.

Literarische Welt: In Frankreich müssen Politiker, die Präsident werden wollen, sagen: „Ich liebe Balzac“ oder so was Ähnliches. Nur Jacques Chirac hat gesagt: „Ich lese Gedichte, die sind kürzer.“

Nora Gomringer: Genau richtig! Ich habe einfach nicht viel Geduld für schlechte Prosa. Es ist wesentlich einfacher, Lyrik zu lesen.



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