Enzensbergers Thesen scheinen sich durch schlichtes Wiederkäuen zum gültigen Stand der Debatte nobilitiert zu haben.
Sagt Bertram Reinecke in einem Essay über die “Aporien der Avantgarde”, der vor einigen Tagen beim Poetenladen erschien. Auszüge:
Wer einen Text angreift, der ein halbes Jahrhundert alt ist, wirkt nicht nur inaktuell, er sieht auch aus, als wolle er aus der gesicherten Position der Gegenwart auf eine historische Bemühung herabschauen. Beides ist hier nicht der Fall, denn Enzensbergers Essay „Die Aporien der Avantgarde“ ist aktuell, insofern sich die darin enthaltenen Missverständnisse als erstaunlich zählebig erwiesen haben.
Tatsächlich werden Enzensbergers Positionen heute sowohl in Einführungswerken als Diagnosen kolportiert, wie in germanistischen Rezensionen ganz selbstverständlich als Hebel des kritischen Sachstands angesetzt.
Heute wird der Essay als Stützanker im öffentlichen poetologischen Gespräch verwendet, als hätte der Autor in seinem Essay irgend etwas Neues über die Avantgarde herausgefunden oder dies auch nur vorgehabt und auch im beginnenden 21sten Jahrhundert beendet der Satz „Lies Die Aporien der Avantgarde, da zeigt sich, dass sich das Konzept schon damals erledigt hatte“ Seminardiskussionen auf autoritäre Weise.
Enzensbergers Thesen scheinen sich durch schlichtes Wiederkäuen zum gültigen Stand der Debatte nobilitiert zu haben. Angriffe auf seinen Text machen sich dadurch sofort als subjektive Volten verdächtig.
Einen Nachgeborenen, dessen Weg mit der Fortsetzung ehemals als „avantgardistisch“ einsortierter Positionen zu tun hat, wehen Enzensbergers Thesen also recht kalt an.
Wenn allerdings in Abiturstufe und Grundstudium ein Text die Grundlagen für ein Literaturverständnis legt – solche Grundlagen werden in den seltensten Fällen später ernstlich hinterfragt – der in seinen besten Stellen eine unentwirrbare Verknäulung weniger wahrer und allerhand falscher Annahmen darstellt, sich im wesentlichen aber als ein wohlformulierter Ausdruck von Resentiment erweist, ist irgend etwas schief gegangen.
(…)
Geht man davon aus, das eine gemeinschaftliche Anstrengung zu einer Veränderung künstlerischer Maßstäbe nicht unmittelbar mit einer Charakterschwäche zu tun hat, wird Enzensbergers weitere Argumentation dürftig.
Denn er sagt es ja selbst: „Kein einziges Werk ist zu widerlegen mit dem Hinweis darauf, dass sein Urheber sich zu dieser oder jener Garde geschlagen hat.“ Wenn aber das einzelne Werk über das Programm einer Gruppe immer hinausreicht, versteht es sich nicht von selbst, dass irgendwelche (Fehl)leistungen Marinettis, Kerouacs, Dalis oder Bretons unmittelbar ihren Gruppen anzulasten wären, noch weniger, dass sie die Avantgarden an sich beträfen.
Sätze, die man für geschmacklos halten kann, wie „Kriege meliorieren die Rassen“, „Hitler ist der größte Surrealist“ oder „Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern auf die Straße zu gehen und so lange wie möglich in die Menge zu schießen“ mögen sich in avantgardistischen Manifesten häufiger finden als etwa in einem Kochbuch: Dass es Avantgarden auch um Provokation ging, soll nicht bestritten werden.
Man kann allerdings auch untersuchen, wie die von Enzensberger zitierten Provokationen hergestellt sind und wird schnell finden, dass er Verschiedenes in einen Topf wirft. Während es sich bei dem Marinettizitat tatsächlich um dumpfen Faschismus handelt, leben die beiden anderen von der Fallhöhe der Bedeutsamkeit ihrer Themen. Angesichts von Gewalt und Schrecken wirkt jedes Nebenthema, zumal im zweiten Falle, wo es sich (vom Satzbau) keck zum Hauptthema aufschwingt, schnell geschmacklos.
Wir alle erinnern uns, wie schwer es nach den Ereignissen des 11. September wurde, eigentlich wichtige Fragen wie Versäumnisse der Entwicklungspolitik, Probleme der medialen Darstellung anderer Kultur oder von Gewalt zur Sprache zu bringen. Die Soziologie hat dafür ein Wort: Betroffenheitsspirale. Die eigentlich begründete Scheu, andere zu verletzen, führt dazu, dass Differenzierungsprozesse nicht mehr öffentlich ausgetragen werden können und Tabus entstehen. Es gibt nur noch schwarz oder weiß. Das Brisante an solchen Spiralen ist, dass solche Betroffenheit nicht einmal empfunden werden muss. Es genügt dazu, wenn es öffentliche Artikulationen von Betroffenheit gibt (manchmal sogar nur im Namen von anderen). Die eigentlich begründete Scheu, andere zu verletzen, kann angesichts von Gewalt und Schrecken daran beteiligt sein, eine pluralistische Zivilgesellschaft zu untergraben. Die Frage nach den Konventionen bürgerlicher Angemessenheit, die sich noch in den rüden Provokationen der Surrealisten ausspricht, handelt also von sehr viel bedeutsameren Dingen als der Frage, „ob man Fisch mit dem Messer essen“ soll.
Dem deutschen Musterschüler Enzensberger hingegen fällt zu den zitierten Sätzen nicht mehr ein als zu behaupten: „Die sagen Hitler und Gewalt, die sind böse“ Und alle gut (autoritär) erzogenen Musterschüler haben sich gefälligst mit Ekel abzuwenden. Nach der Polizei zu rufen traut er sich damals noch nicht.
Überhaupt scheinen ihm Verfahrensneuerungen, veränderte Haltungen und dergleichen ziemlich egal. Worauf es ihm ankommt, ist der politische Inhalt, die Tendenz. Damit tut er genau das, was auch die Kritiker des Neuen Deutschlands taten, und was er zu Recht rügt: „Diese Vorschriften sind immer dieselben Der Akzent muss auf weltanschaulichen Fragen liegen“ Die italienische Futuristen und die Surrealisten kommen ihm wegen der charakterlichen Dispositionen ihrer geistigen Vorreiter da besonders entgegen. Der Expressionismus dürfte auch 1962 in Deutschland zu bekannt gewesen sein, als dass man ihn so lapidar über diesen Kamm scheren kann.
Auf sonderbare Weise fängt er im hinteren Teil des Essays an, den Futurismus für ein Urphänomen der Avantgarde zu halten, während er sich vorher, damit seine Begriffsanalyse irgend plausibel ist, dazu entschlossen hatte, das Phänomen bis ins mittlere 19. Jahrhundert zurück zu datieren.
Ebenso seiner Sache dienlich wie aus der Luft gegriffen ist die Behauptung, der Surrealismus sei die am besten ausgebaute Avantgarde. „Alle früheren und späteren Gruppierungen wirken mit ihm verglichen armselig dilettantisch und unartikuliert.“
Diese Diagnose ist in Bezug auf den russischen Kubofuturismus/ Konstruktivismus zumindest erklärungsbedürftig. Denn diese Bewegung hatte, wie die Surrealisten, neben einer ausgeprägten Manifestkultur ebenso eine reiche literarische Produktion und war ein gesamtkünstlerisches Phänomen. Nicht nur gibt es wie bei den Surrealisten zahlreiche richtungsweisende Produktionen in bildender Kunst und Film. Der Kubofuturismus-Konstruktivismus erstreckte sich folgenreicher als der Surrealismus auch auf Architektur, Bühne und die zeitgenössische Musik. Er hatte nicht nur wie der Surrealisms seine eigenen Publikationsorgane (LeF, MAF), durch ihn beeinflusst erschuf sich auch gleich die passende Literatur-, Sprach- und Kunstwissenschaft.
Ebenso wird man schwerlich behaupten können, dass Leute wie Chlebnikow, Majakowski oder Krutschonych ihre größten Leistungen erst in Abkehr von ihrer Doktrin vollbrachten, wie das Enzensberger pars pro toto anhand der surrealistischen Künstler dekretiert. Es gibt durchaus Programme, die nicht erst in ihrer Überwindung künstlerisch fruchtbar geworden sind, auch wenn es unser Kunstverständnis, das durch Geniekult, Auratik und Adorno hindurchgegangen ist, frustrieren mag.
Enzensberger ignoriert dies alles mehr oder weniger bewusst und gießt lieber billige Häme aus. „Selbstverständlich waren die gelegentlichen Sympatien der Avantgarde für die totalitären Bewegungen durchaus einseitig …“ schreibt er mit Blick auf die russischen Futuristen. Gewiss: Sie betrachteten die russischen Umwälzungen mit Hoffnung, was angesichts des morschen zaristischen Ochranastaates kaum verwunderlich ist. Sie waren, vielleicht sogar mehr als nur gelegentlich, Kommunisten. Ihnen dies vorzuwerfen, wäre ebenso logisch, als wolle man Stefan Heym oder Adolf Endler nachsagen, sie legten sich zur CSU ins Bett, weil sie sich als Demokraten gegen eine verkrustete DDR-Bürokratenherrschaft zur Wehr setzten. (Und Stalinisten argumentieren ja in der Tat so!)
Da es ihm nur um politische Inhalte geht, ist es konsequent, dass Enzensberger nicht ein einziges literarisches Werk der von ihm behandelten Avantgarden einer näheren Untersuchung unterzieht. Er gibt eine Silbenreihe, die dann prototypisch für jegliche avantgardistische Literatur einstehen darf. Dies ohne Kontext und man fragt sich: Ist dies Teil einer Rühmschen Sprechpartitur? Überraschendes Ergebnis eines Sortier- oder Umformprozesses? Tragen die Silben vielleicht Reste einer Semantik oder sind sie Dokument eines experimentellen Scheiterns? Ehe man nicht weiß, was man damit anfangen kann, kann man eben nichts damit anfangen, ganz unabhängig noch von der Frage, ob das Werk nun künstlerisch hochwertig ist oder nicht. Wenn es den Avantgarden ernst ist mit der Einführung neuer Gebrauchsweisen neuartiger Kunstgegenstände, dann beweist das nichts.
Ebenso leicht könnte man folgende Buchstabengruppe als eine sinnlos in die Tastatur gehackte Buchstabengruppe diskreditieren:
„Taumatawhakatangihangakoauauotamateaturipukakapikimaungahoronukupokaiwhenuaki tanatahu“
(Dabei ist es sogar fast ein Gedicht.) Statt näher hin zu schauen, klopft Enzensberger lieber seinem Leser auf die Schulter: Deine (historisch, z.B. in der Schule erlernten) Maßstäbe reichen aus, die Fülle auch neuerer Experimente intellektuell zu bewältigen. Wer sich als Leser in diesem schönen Lichte universeller Kritikfähigkeit sonnen will, muss freilich Enzensberger voll vertrauen und die Kröten mitfressen. Es ist dies eine Variante einer rhetorischen Strategie, die sowohl bei Handelsvertretern als auch bei den Zeugen Jehovas Anwendung findet: „Sie als intelligenter Mensch werden mir doch zustimmen, wenn ich sage, dass …“
Auch in Bezug auf das Experimentieren belässt es Enzensberger bei den naiven Legenden der Schulbücher und mag die weitaus differenzierteren Anmerkungen, die etwa Helmut Heißenbüttel zu diesem Thema gemacht hat, sich und dem Leser nicht zumuten. Auch hier appelliert Enzensberger an einen Common sense, dem er an anderer Stelle als bloß anerzogenen misstraut. Insofern viele Texte landläufig als experimentell bezeichnet werden, die dies ihrem eigenen Selbstverständnis nach nicht sind, bloß weil sie der Allgemeinheit unbekanntere Sprechweisen nutzen, ist ein solcher Appell verfehlt.