47. Anti-Enzensberger

Enzensbergers Thesen scheinen sich durch schlichtes Wieder­käuen zum gültigen Stand der Debatte nobi­litiert zu haben.

Sagt Bertram Reinecke in einem Essay über die “Aporien der Avantgarde”, der vor einigen Tagen beim Poetenladen erschien. Auszüge:

Wer einen Text angreift, der ein halbes Jahrhundert alt ist, wirkt nicht nur inaktuell, er sieht auch aus, als wolle er aus der gesicherten Position der Gegenwart auf eine historische Bemühung herabschauen. Beides ist hier nicht der Fall, denn Enzens­bergers Essay „Die Aporien der Avantgarde“ ist aktuell, insofern sich die darin enthaltenen Miss­ver­ständ­nisse als erstaunlich zählebig erwiesen haben.
Tatsächlich werden Enzensbergers Positionen heute sowohl in Einführungs­werken als Diagnosen kol­portiert, wie in germanis­tischen Rezensionen ganz selbst­ver­ständ­lich als Hebel des kri­tischen Sach­stands angesetzt.

Heute wird der Essay als Stützanker im öffentlichen poeto­logischen Gespräch verwendet, als hätte der Autor in seinem Essay irgend etwas Neues über die Avant­garde heraus­gefunden oder dies auch nur vor­gehabt und auch im begin­nenden 21sten Jahr­hundert beendet der Satz „Lies Die Aporien der Avant­garde, da zeigt sich, dass sich das Konzept schon damals erledigt hatte“ Seminar­diskus­sionen auf autoritäre Weise.

Enzensbergers Thesen scheinen sich durch schlichtes Wiederkäuen zum gültigen Stand der Debatte nobi­litiert zu haben. Angriffe auf seinen Text machen sich dadurch sofort als subjektive Volten verdächtig.
Einen Nachgeborenen, dessen Weg mit der Fort­setzung ehemals als „avant­gardis­tisch“ einsortierter Posi­tionen zu tun hat, wehen Enzensbergers Thesen also recht kalt an.

Wenn allerdings in Abitur­stufe und Grund­studium ein Text die Grundlagen für ein Lite­ratur­verständnis legt – solche Grundlagen werden in den seltensten Fällen später ernstlich hinter­fragt – der in seinen besten Stellen eine unent­wirrbare Ver­knäulung weniger wahrer und aller­hand falscher Annahmen darstellt, sich im wesentlichen aber als ein wohl­formu­lierter Ausdruck von Resen­timent erweist, ist irgend etwas schief gegangen.

(…)

Geht man davon aus, das eine gemeinschaftliche Anstrengung zu einer Veränderung künstle­rischer Maßstäbe nicht unmittelbar mit einer Charakter­schwäche zu tun hat, wird Enzens­bergers weitere Argu­mentation dürftig.

Denn er sagt es ja selbst: „Kein einziges Werk ist zu widerlegen mit dem Hinweis darauf, dass sein Urheber sich zu dieser oder jener Garde geschlagen hat.“ Wenn aber das einzelne Werk über das Programm einer Gruppe immer hinaus­reicht, versteht es sich nicht von selbst, dass irgendwelche (Fehl)leistungen Marinettis, Kerouacs, Dalis oder Bretons unmittelbar ihren Gruppen anzulasten wären, noch weniger, dass sie die Avant­garden an sich beträfen.

Sätze, die man für geschmacklos halten kann, wie „Kriege meliorieren die Rassen“, „Hitler ist der größte Surrealist“ oder „Die einfachste sur­realistische Tat besteht darin, mit Revolvern auf die Straße zu gehen und so lange wie möglich in die Menge zu schießen“ mögen sich in avantgardistischen Manifesten häufiger finden als etwa in einem Kochbuch: Dass es Avantgarden auch um Provo­kation ging, soll nicht bestritten werden.

Man kann allerdings auch untersuchen, wie die von Enzensberger zitierten Provo­katio­nen hergestellt sind und wird schnell finden, dass er Verschiedenes in einen Topf wirft. Während es sich bei dem Marinetti­zitat tatsächlich um dumpfen Faschis­mus handelt, leben die beiden anderen von der Fall­höhe der Bedeut­samkeit ihrer Themen. Angesichts von Gewalt und Schrecken wirkt jedes Nebenthema, zumal im zweiten Falle, wo es sich (vom Satzbau) keck zum Hauptthema aufschwingt, schnell geschmacklos.

Wir alle erinnern uns, wie schwer es nach den Ereignissen des 11. September wurde, eigentlich wichtige Fragen wie Versäumnisse der Entwicklungspolitik, Probleme der medialen Darstellung anderer Kultur oder von Gewalt zur Sprache zu bringen. Die Soziologie hat dafür ein Wort: Betroffen­heits­spirale. Die eigent­lich begründete Scheu, andere zu verletzen, führt dazu, dass Differen­zierungs­prozesse nicht mehr öffentlich ausgetragen werden können und Tabus entstehen. Es gibt nur noch schwarz oder weiß. Das Brisante an solchen Spiralen ist, dass solche Betrof­fenheit nicht einmal empfunden werden muss. Es genügt dazu, wenn es öffentliche Arti­kulationen von Betrof­fenheit gibt (manchmal sogar nur im Namen von anderen). Die eigent­lich begründete Scheu, andere zu verletzen, kann angesichts von Gewalt und Schrecken daran beteiligt sein, eine plura­listische Zivil­gesellschaft zu unter­graben. Die Frage nach den Konven­tionen bürgerlicher Angemessenheit, die sich noch in den rüden Provo­kationen der Sur­realisten ausspricht, handelt also von sehr viel bedeut­sameren Dingen als der Frage, „ob man Fisch mit dem Messer essen“ soll.
Dem deutschen Musterschüler Enzensberger hingegen fällt zu den zitierten Sätzen nicht mehr ein als zu behaupten: „Die sagen Hitler und Gewalt, die sind böse“ Und alle gut (autoritär) erzogenen Musterschüler haben sich gefälligst mit Ekel abzuwenden. Nach der Polizei zu rufen traut er sich damals noch nicht.

Überhaupt scheinen ihm Verfahrens­neuerungen, veränderte Haltungen und der­glei­chen ziemlich egal. Worauf es ihm ankommt, ist der poli­tische Inhalt, die Tendenz. Damit tut er genau das, was auch die Kritiker des Neuen Deutschlands taten, und was er zu Recht rügt: „Diese Vo­rschriften sind immer dieselben Der Akzent muss auf welt­anschaulichen Fragen liegen“ Die italienische Futuristen und die Surrealisten kommen ihm wegen der charakterlichen Dispo­sitionen ihrer geistigen Vor­reiter da besonders entgegen. Der Expres­sionismus dürfte auch 1962 in Deutschland zu bekannt gewesen sein, als dass man ihn so lapidar über diesen Kamm scheren kann.

Auf sonderbare Weise fängt er im hinteren Teil des Essays an, den Futurismus für ein Urphä­nomen der Avantgarde zu halten, während er sich vorher, damit seine Begriffsanalyse irgend plausibel ist, dazu ent­schlossen hatte, das Phänomen bis ins mittlere 19. Jahrhundert zurück zu datieren.

Ebenso seiner Sache dienlich wie aus der Luft gegriffen ist die Behauptung, der Surrealismus sei die am besten ausge­baute Avant­garde. „Alle früheren und späteren Grup­pierungen wirken mit ihm verglichen armselig dilet­tantisch und unartikuliert.“
Diese Diagnose ist in Bezug auf den russischen Kubo­futurismus/ Kons­truktivismus zumindest erklä­rungs­bedürf­tig. Denn diese Bewegung hatte, wie die Surrealisten, neben einer ausgeprägten Manifestkultur ebenso eine reiche lite­ra­rische Produkt­ion und war ein gesamt­künstle­risches Phänomen. Nicht nur gibt es wie bei den Sur­realisten zahl­reiche richtungs­weisende Pro­duktionen in bil­dender Kunst und Film. Der Kubo­futuris­mus-Konstruk­tivismus erstreckte sich folgenreicher als der Sur­realismus auch auf Architektur, Bühne und die zeitgenössische Musik. Er hatte nicht nur wie der Surrealisms seine eigenen Publikations­organe (LeF, MAF), durch ihn beeinflusst erschuf sich auch gleich die passende Literatur-, Sprach- und Kunst­wissenschaft.

Ebenso wird man schwerlich behaupten können, dass Leute wie Chlebnikow, Majakowski oder Krutschonych ihre größten Leistungen erst in Abkehr von ihrer Doktrin vollbrachten, wie das Enzensberger pars pro toto anhand der sur­realistischen Künstler dekretiert. Es gibt durchaus Programme, die nicht erst in ihrer Überwindung künstlerisch fruchtbar geworden sind, auch wenn es unser Kunstverständnis, das durch Geniekult, Auratik und Adorno hindurchgegangen ist, frustrieren mag.

Enzensberger ignoriert dies alles mehr oder weniger bewusst und gießt lieber billige Häme aus. „Selbst­verständlich waren die gelegentlichen Sympatien der Avantgarde für die totalitären Bewe­gungen durchaus einseitig …“ schreibt er mit Blick auf die russischen Futuristen. Gewiss: Sie betrach­teten die russischen Umwälzungen mit Hoffnung, was angesichts des morschen zaris­tischen Ochrana­staates kaum verwunderlich ist. Sie waren, vielleicht sogar mehr als nur gelegentlich, Kommunisten. Ihnen dies vorzuwerfen, wäre ebenso logisch, als wolle man Stefan Heym oder Adolf Endler nachsagen, sie legten sich zur CSU ins Bett, weil sie sich als Demokraten gegen eine verkrustete DDR-Büro­kraten­herr­schaft zur Wehr setzten. (Und Stalinisten argumentieren ja in der Tat so!)

Da es ihm nur um poli­tische Inhalte geht, ist es konsequent, dass Enzens­berger nicht ein einziges literarisches Werk der von ihm behan­delten Avant­garden einer näheren Unter­suchung unterzieht. Er gibt eine Silben­reihe, die dann prototypisch für jegliche avant­gardis­tische Literatur einstehen darf. Dies ohne Kontext und man fragt sich: Ist dies Teil einer Rühmschen Sprech­partitur? Über­raschendes Ergebnis eines Sortier- oder Umform­prozesses? Tragen die Silben vielleicht Reste einer Semantik oder sind sie Dokument eines expe­rimentel­len Scheiterns? Ehe man nicht weiß, was man damit anfangen kann, kann man eben nichts damit anfangen, ganz unabhängig noch von der Frage, ob das Werk nun künstle­risch hochwertig ist oder nicht. Wenn es den Avant­garden ernst ist mit der Ein­führung neuer Gebrauchs­weisen neuartiger Kunst­gegenstände, dann beweist das nichts.
Ebenso leicht könnte man folgende Buch­stabengruppe als eine sinnlos in die Tastatur gehackte Buch­stabengruppe dis­kreditieren:

„Taumatawhakatangihangakoauauot­amateaturipukakapikimaun­gahoronukupokaiwhen­uaki tanatahu“

(Dabei ist es sogar fast ein Gedicht.) Statt näher hin zu schauen, klopft Enzensberger lieber seinem Leser auf die Schulter: Deine (historisch, z.B. in der Schule erlernten) Maßstäbe reichen aus, die Fülle auch neuerer Experi­mente intel­lektuell zu bewältigen. Wer sich als Leser in diesem schönen Lichte uni­verseller Kritik­fähigkeit sonnen will, muss freilich Enzens­berger voll vertrauen und die Kröten mit­fressen. Es ist dies eine Variante einer rhetorischen Strategie, die sowohl bei Handels­vertretern als auch bei den Zeugen Jehovas Anwendung findet: „Sie als intel­ligen­ter Mensch werden mir doch zustimmen, wenn ich sage, dass …“

Auch in Bezug auf das Experimentieren belässt es Enzensberger bei den naiven Legenden der Schul­bücher und mag die weitaus differen­zierteren Anmer­kungen, die etwa Helmut Heißenbüttel zu diesem Thema gemacht hat, sich und dem Leser nicht zumuten. Auch hier appelliert Enzensberger an einen Common sense, dem er an anderer Stelle als bloß aner­zogenen miss­traut. Insofern viele Texte land­läufig als expe­rimentell bezeichnet werden, die dies ihrem eigenen Selbst­ver­ständnis nach nicht sind, bloß weil sie der Allgemein­heit unbekanntere Sprech­weisen nutzen, ist ein solcher Appell verfehlt.



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