46. Stück: “Requiem for a Dream” als moderne “Glasmenagerie”?

Von Isa09

Manchmal, wenn ich einen Film anschaue oder ein Buch lese, fallen mir meine alten Vorsprechrollen wieder ein. Vorsprechrollen sind Ausschnitte aus Theaterstücken, die Schauspieler zum einen für ihre Abschlussprüfung vorbereiten, zum anderen bei Castings und Vorsprechen präsentieren, damit die Regisseure, Dramaturgen und Produzenten sehen können, ob die Schauspieler was taugen. Das hat dann natürlich nichts mit der tatsächlichen Arbeit auf der Bühne oder vor der Kamera zu tun – es gibt viele Schauspieler, die vor Aufregung und Nervosität, oder einfach weil beim Vorsprechen kein wohlwollendes Gegenüber in Gestalt eines Publikums vorhanden ist, bei diesen Bewerbungsprozeduren ganz furchtbar, unter normalen Umständen aber ganz wunderbar sind – aber so ist das halt. Jedenfalls hatte ich bei meiner Abschlussprüfung drei Vorsprechrollen vorbereitet (Jean Anouilhs Antigone, St. Just aus Georg Büchners Dantons Tod und Sarah Kanes 4.48 Psychose) und weil ich das Stück von Sarah Kane gründlich vermasselt habe und das einfach nur peinlich war, arbeitete ich nach der Ausbildung stattdessen die Laura aus Tennessee Williams Die Glasmenagerie. Es hieß, die Rolle würde gut zu mir passen. Mädchenhaft. Verträumt. Scheu. Passt natürlich super, wenn man aussieht, wie Bambis kleine Schwester mit Zuckerguss. Ich habe diese Rolle nie hinbekommen. Und ich habe diese Rolle nach kurzer Zeit gehasst.

Warum? Weil es mich fürchterlich genervt hat, dieses mädchenhafte, verträumte, scheue Geschöpf zu spielen, das überhaupt nicht aufbegehrt. So was zu spielen ist langweilig. Auch, wenn es vielleicht realistisch ist und es in der wirklichen Welt viele Menschen gibt, die so sind. Die sich in ihre Traumwelt zurückziehen und darin bleiben. Und nie verändert sich irgendetwas. Aber auf der Bühne ist das öde – sowohl für den Schauspieler als auch für den Zuschauer.

Jedenfalls fiel mir diese Laura wieder ein, beziehungsweise Tennessee Williams Glasmenagerie und das Figurenensemble darin, als ich für meine Masterarbeit über Mentale Metadiegesen im zeitgenössischen Film Darren Aronofskys Requiem for a Dream anschaute. Bei mentalen Metadiegesen handelt es sich sozusagen um Binnenerzählungen – also kurzen Erzählungen in größeren Erzählungen – die das Innenleben beziehungsweise das, was in den Köpfen der Figuren vorgeht, darstellen. Das können Erinnerungen, Träume, Visionen, Vorstellungen oder auch ausgedachte Geschichten sein.

In der Glasmenagerie gibt es vier Figuren, beziehungsweise fünf, wenn man den abwesenden Vater mitzählt. Die Familie Wingfield bestehend aus den Geschwistern Laura und Tom sowie aus der Mutter Amanda und ein Kollege und Schulkamerad von Tom, Jim O’Connor. Amanda Wingfield trauert ihrer Jugend nach, Laura ist leicht körperlich behindert (ein Bein ist kürzer als das andere) und Tom wäre gern Schriftsteller. Jim hat große Pläne als Geschäftsmann und nimmt an Rhetorikkursen teil. Alle Figuren flüchten sich in Träume und Vorstellungen, versinken völlig darin und vergessen darüber ihre Realität. Einzig Tom schafft es irgendwann, aus diesen beengten Verhältnissen auszubrechen und geht zur Marine. Doch den Traum, als Schriftsteller zu arbeiten, muss er dafür aufgeben. Und seine Familie – wie damals sein Vater – im Stich lassen.

Hier ist ein kleiner Einblick in das Stück, Schauspieler erzählen etwas über die Figuren:

Requiem for a Dream stellt ebenfalls vier Figuren in den Mittelpunkt, auch hier ist der Vater abwesend. Die Mutter Sara Goldfarb lebt für ihren Traum, als Kandidatin in ihrer Lieblings-Fernsehsendung aufzutreten. Ihr Sohn Harry ist drogensüchtig, dessen Kumpel Tyrone ebenfalls und es dauert nicht lange, da spritzt sich auch seine Freundin Marion Heroin. Doch auch diese Drei haben einen Traum. Sie wollen durch Dealen viel Geld verdienen, damit Marion als Modedesignerin in ihrer eigenen Boutique arbeiten kann. Wenn sie genug Geld zusammenhaben, wollen sie seriös werden und ein normales, bürgerliches, anständiges Leben führen.

Hier ist der Trailer zu Requiem for a Dream:

Sicher gibt es Unterschiede zwischen der Glasmenagerie und Requiem for a Dream. In dem Stück nimmt keine der Figuren Drogen, die in dem Film eine zentrale Rolle spielen. In dem Film ist keine der Figuren körperlich beeinträchtigt, im Stück ist es ein wichtiger Teil der Figur Laura, dass diese eine leichte Behinderung hat und dies mit ein Grund für ihre Minderwertigkeitskomplexe ist. Aber ich finde, vom Thema her und von der Atmosphäre lassen sich die beiden Werke durchaus vergleichen. In beiden Geschichten geht es um zerbrochene Träume und um Figuren, die trotz aller Widrigkeiten an ihren Träumen festhalten, bis sie schließlich zu ihrem einzigen Daseinsgrund und Lebensinhalt geworden sind. Tom fällt aus diesem Muster zwar heraus, aber ich denke, an seiner Figur kann man erkennen, wie sehr Laura, Amanda und auch Jim sich etwas vormachen – was gleichzeitig ihr Verderben und ihre Lebensgrundlage darstellt. Im Film braucht es eine solche Figur nicht, denn durch filmische Mittel werden die zerbrochenen Träume und die Realität der Figuren nebeneinander gestellt und auf diese Weise das erzählt, was in der Glasmenagerie durch die Figur Tom klar wird.

Vielleicht habe ich damals die Figur der Laura auch schlichtweg fehlinterpretiert und deswegen war die Rollenarbeit an ihr ein solches Desaster. Sie ist nämlich nicht einfach nur mädchenhaft, scheu und verträumt. Sie ist hin und her gerissen, wie sämtliche Figuren in der Glasmenagerie und auch in Requiem for a Dream, zwischen ihren Träumen und der Wirklichkeit und das macht sie zu einem ambivalenten, widersprüchlichen Charakter. Eigentlich also doch nicht so langweilig. Vielleicht würde die Geschichte der Glasmenagerie heutzutage im “White Trash”-Millieu gut funktionieren und vielleicht würde Amanda nicht ihrer verlorenen Jugend hinterher trauern, sondern hoffen, in einer Fernsehshow auftreten zu dürfen. Vielleicht würden Tom und Jim nicht in einer Schuhfabrik arbeiten, sondern versuchen mit Drogenhandel das schnelle Geld zu verdienen, um sich ein freies, eigenständiges und seriöses Leben darauf aufzubauen. Und vielleicht würde Laura sich davon verführen lassen und statt Glastierchen zu sammeln plötzlich dem Heroin verfallen.

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