46. Mühsams Lebensroman

Von Lnpoe

Welche Stellung haben die Tagebücher in seinem Gesamtwerk?
HIRTE: Mühsam ist bekannt für seine politischen Spottverse und seine Lyrik, für seine beißenden Polemiken und seine „Unpolitischen Erinnerungen“. Aber die Tagebücher sind sein Hauptwerk, sein Lebensroman. Ich halte sie auch literarisch für bedeutender und folgenreicher als sein lyrisches Schaffen.

Sie publizieren die Tagebücher parallel auch komplett im Internet. Kannibalisieren Sie damit nicht den Verkauf der Buchausgabe?
HIRTE: Zunächst ist es eine mutige Tat des Verbrecher Verlags, diese Parallel-Edition zu wagen. Das Buch kann man lesen, im Internet kann man mit dem Text arbeiten. Begleitet wird er dort von der kompletten Handschriften-Fassung, einem ausführlichen Register, ergänzenden Materialien und allerlei Verlinkungen ins Internet. So kann die Edition immer auf dem neuesten Stand gehalten und weiter entwickelt werden, auch durch Beteiligung der Leser. Das ist keine Kannibalisierung, sondern eine wunderbare Bereicherung für eine Buchausgabe, die all das nicht leisten kann. Aber man kann sie zu einem erschwinglichen Preis erwerben und lesen wie einen Roman.

Erich Mühsam, Tagebücher Band 1 / 1910-1911, Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens, 352 S., Verbrecher Verlag, Berlin 2011. 28 Euro. Bis 2018 erscheinen jährlich zwei Bände der auf 15 Bände angelegten Edition. Die Tagebücher erscheinen auch im Internet samt Register und der Handschrift unter www.muehsam-tagebuecher.de

Aus der Geschichte der Tagebücher:

Auch Zenzl Mühsam wurde verhaftet und konnte erst 1955 in die DDR ausreisen. Dort ließ sie Mikrofilmkopien vom Nachlass ihres Mannes anfertigen, die aber unter Verschluss blieben. Zenzl Mühsam starb am 10. März 1962. Erst in den 1980er Jahren wurden in der DDR die Tagebücher Mühsams schließlich transkribiert, aber nicht mehr publiziert, da die Mauer fiel.

/ Neue Westfälische