Der Livestream als neue Chance für das Theater? Publikumsgewinn oder nur ein weiterer trostloser Versuch das Theater interessanter zu machen?
Die Heinrich-Böll-Stiftung lud zum Livestream von Dortmund nach Berlin mit anschließender Diskussion.
Gestreamt wurde 4.48 Psychose von Sarah Kane in Regie des Dortmunder Intendanten Kay Voges. Dieser war selbst in Berlin anwesend. Da Kane in ihrem Testament verfügt hatte, dass ihre Texte nicht als Oper oder Film gezeigt werden dürfen, musste die Veranstaltung in geschlossenem Rahmen stattfinden. Auch der Chef des Rowohlt-Verlages, bei dem der Text liegt, war anwesend.
Es ging los und nach ein paar technischen Übertragungsproblemen lief es. Im Vorfeld wurden wir über die technischen Begebenheiten informiert und wie teuer der ganze Spaß ist. In Dortmund war ein Live-Cutter am Werk und ein ganzes Team von Technikern. Es wurde zu einem technischen Hype stilisiert und aufgebauscht, sowohl im Vorfeld als auch in der Diskussion danach. Über die Aufführung wurden nur wenige Worte verloren, der Inhalt, die Ästhetik, das Zusammenspiel. Wie Tim Renner in seinem Statement sagte, sind wir ganz am Anfang und es ist eine Vision. Das erkennt man leicht daran, dass nur über den Stream an sich, über die Technik und die Möglichkeiten geredet wird, nicht aber über die Inszenierung.
Die Frage nach der Inszenierung stellt sich hier insoweit, als das man sich fragen kann: Wie kann man über eine gestreamte Vorstellung berichten oder schreiben?
Der Vortragsraum in der Heinrich-Böll Stiftung hatte natürlich nicht das Flair eines Theaterbesuches. Was kann man jetzt über diese Inszenierung sagen. Im Zusammenhang mit der Veranstaltung bot sich die Inszenierung an, da sie selber sehr digitalisiert war. Die drei Schauspieler spielten in einer Box, welche mit einer Art Leinwand umspannt war und auf der permanent Text und/oder die Gesichter der Schauspieler projiziert wurden. Nur ganz zum Schluss sah man die realen Körper, als die Leinwand abgerissen wurde. Der Zuschauer in Dortmund hatte also nur den Blick auf die Leinwand. Wir in Berlin hatten einen anderen Blick, da sich noch eine Kamera in der Box befand. Es waren drei Kameras und eine Handkamera, sowie die in der Box dabei. Der Cutter schnitt die Bilder während der Übertragung und wurde so zum Regisseur des Streams. Die Ebenen überlagern sich. Im Moment des Streams ist der Regisseur also nur noch teilweise Regisseur seines eigenen Stückes, da er die Kontrolle des was-gesehen-wird in die Hände des Technikteams gibt. Unser Blick wurde kontrolliert, die Zuschauer in Dortmund hatten einen Panorama-Blick im Gegensatz zu uns. Ich traue mich gar nicht das Stück zu kritisieren, da ich die ganze Zeit das Gefühl habe, ich habe nicht alles gesehen und kann keine objektive Meinung dazu abgeben.
Die Schauspieler waren grandios. Trotz der Leinwand zwischen uns habe ich sie gespürt, doch der Live-Moment hat gefehlt und vor allem bei so einem Text und so einer großartigen schauspielerischen Leistung ist er unersetzlich. Es ist eben kein Kino und es ist auch keine Kinoästhetik. Im Nachhinein wurde oft gesagt, dass man lieber in Dortmund gesessen hätte.
Im Hintergrund der Box waren vier oder fünf Gestalten hinter ihren Laptops, die die Technik der Leinwand, in Dortmund, betreut haben. Sie waren die Doktoren und die Schauspieler die Patienten. Eingeschlossen in einer digitalen Welt und auf dem Weg ihren Verstand zu verlieren. Der Text als eine Aneinanderreihung von Monologen und Dialogen. Es gibt keine kontinuierlichen Handlungsverlauf, sondern nur das Immerselbe. Der Sound ist laut, die Schauspieler schreien, winseln und zerstören sich selbst. Das innere der Box ist zum Schluss ein Schlachtfeld und die Schauspieler auch.
Wenn die Kamera frontal auf die Box gerichtet wird und man keinen Rahmungen mehr erkennt, dann ist es als säße man in einem Kino mit unbequemen Sesseln wo das Popcorn fehlt.
Zum Schluss reißen die Schauspieler die Box ein und steigen hinaus. Wir bekommen durch die Kamera noch einen kleinen Einblick in den Backstagebereich. Danach die Diskussion oder vielmehr das vortragen von Statements unterschiedlicher Menschen.
Verschiedene Experten trugen ihre Ansichten vor. Zur Diskussion blieb dann keine Zeit mehr. Alle beteiligten waren fast durchweg positiv eingestellt, nur ein Publikumsbeitrag am Schluss kippte die Stimmung dann doch ein bisschen. Geraldine de Bastion, die Kuratorin eines großen Netzwerktreffens, machte auf die Vorteile des Livestreams aufmerksam. Zum einen können Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen die Streams sehen und Menschen aus Regionen die diese nicht verlassen können aus unterschiedlichen Gründen würde ein Zugang geschaffen werden. Diese Gründe sind alle richtig und nachvollziehbar aber ist unser Theater so international wie das London National Theatre? Daniel Hengst, der Videokünstler aus Dortmund, sagte etwas sehr Schönes: Wir müssen das Video und/oder den Livestream als etwas betrachten, was in der Inszenierung mitgedacht ist und seinen eigenen Platz hat und nicht als etwas was hinten dran gehängt wird. Der Livestream als neue künstlerische Herausforderung und als neues ästhetisches Medium kann durchaus funktionieren. Mehr Menschen das Theater zugänglich zu machen, sollte immer ein Bestreben sein: Warum also nicht mit Livestream?
Dass das nicht ein allgemeingültiges Rezept werden kann ist logisch aber den Livestream als etwas Künstlerisches zu betrachten, als Teil der Inszenierung, ist ein guter Ansatz.
Meine ganz persönliche Meinung ist, dass im Livestream ein gutes Potential liegt. Man könnte es wunderbar für Schulen einsetzen, die sich nicht leisten können ins Theater zu fahren, anstatt dem gemütlichen Filmeabend auf der Couch kann man einen Theaterabend machen, und für die Theaterwissenschaft beispielsweise und Tausende von Studenten würde es vieles vereinfachen.
Dass ein Stream niemals das reale Theatererlebnis ersetzen kann, darin sind sich alle einig. Ich sehe es als eine Möglichkeit, das Theater weiter hinaus zu tragen und denke dass von einer Ko-Existenz beide Seiten profitieren würden.
Die Veranstaltung fand statt in Kooperation zwischen dem Schauspiel Dortmund, der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Thalia Theater und nachtkritik.de
Der Artikel wurde am 12.12.2014 auf livekritik.de veröffentlicht. www.livekritik.de
Am 10. Dezember 2014 übertrug das Schauspiel Dortmund gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin die Vorstellung von Sarah Kanes “4.48 Psychose” in der Regie von Intendant Kay Voges per Live-Stream in die Stiftungsräume in Berlin, wo im Anschluss eine Diskussion zum Thema “Schauspiel im Stream – Fluch oder Segen?” stattfand. Auch Livekritikerin Marie Golüke hat sich den Stream angesehen. (Anm. d. Redaktion)