Brigitte Kronauer: Es gab für mich ein Buch, das mir die Lichter aufgehen ließ, und das war das Lyrikbuch – ich selbst bin keine Gedichtschreiberin gewesen – Museum der modernen Poesie, herausgegeben 1960 von Hans Magnus Enzensberger: internationale Poesie, zweisprachig abgedruckt. Das war für mich eine ziemliche Offenbarung, dass man so Literatur schreiben konnte. Das Buch wurde eine Art Bibel für mich. Da aber klar wurde, dass ich eher zur Prosa neige, war es der „nouveau roman“. Bei beiden Abteilungen der Literatur ist es die große Einfachheit gewesen, die mich bestach.
Standard: Inwiefern ist der „nouveau roman“ eines Claude Simon, eines Alain Robbe-Grillet einfach?
Kronauer: In dem Sinne, dass auf die alten Metaphern verzichtet wurde, auf die alten Betroffenheiten. Man wird natürlich auch im Gymnasium durch die Lektüre geprägt: Die deutsche Nachkriegsliteratur bemühte sich vor allem um die jüngere Vergangenheit, und ich sah kein Durchkommen, das spannend auf mich zu beziehen.
Standard: Ihnen war diese Literatur zu betulich?
Kronauer: Die damalige Avantgarde betrieb einen Gestaltauf- und Abbau mit ganz einfachen Bausteinen. Man konnte jeden ihrer Schritte nachvollziehen. Das verstehe ich unter Einfachheit, die auf alle Arabesken verzichtet, die später durchaus für mich wichtig wurden. Damals hatte ich das Gefühl: Ich stehe nicht auf Sumpf, sondern auf festem Boden! Später, bei Autoren wie Gomringer oder Heißenbüttel, geriet ich doch auch in Gefahr, abzuschalten. Wenn eine Seite zur Gänze mit immer demselben Wort vollgeschrieben ist, und irgendwo ist dann ein einziges abweichendes Wort, dann nimmt man das zwar wahr, aber …
/ Ronald Pohl, Der Standard 11.5.