Die Badische Zeitung klärt auf. So einfach wie die Leute, die Grass’ Gedicht schlecht finden, kann man es sich nicht machen:
Grass spricht zwar im Hier-stehe-ich-und-kann-nichts-anders-Modus, doch nicht als lyrisches Ich. Aber das aus tiefster Seele um Ausdruck ringende Subjekt ist eh schon lange tot. Lyrik ist heute mehr als zwecklose Freiheit, subjektives Empfinden, reine l’art pour l’art*. Spätestens die literarische Moderne machte die Trennung zwischen Lyrik und Prosa obsolet.
Die Langgedichte von Ezra Pound oder T.S. Eliot unterscheiden sich kaum von Joyce’ Romanen**: Wie die klassisch-chronologische Erzählform lösen sich auch Reim und Metrum auf und machen Platz für Realitätssplitter, Mythen und Selbstreflexionen. Das beseelte Sprechen kreist nicht mehr nur um Ich und Natur, Hier und Jetzt, sondern erfasst auch Alltagsgegenstände, prosaische Empfindungen, unpersönliche Erfahrungen***.
Das gilt erst recht für die politische Lyrik. Schon Heinrich Heine, der das Genre recht eigentlich begründete, machte sich lustig über die Tendenzpoeten, die Gesinnungstüchtigkeit mit Kunst verwechselten. Hoffmann von Fallersleben, einer von ihnen, griff Goethes Hohn (“Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied”****) auf und wendete ihn gegen seinen Urheber: Manchmal haben garstige, ungeschlachte Lieder mehr Dignität und Legitimität als unverbindliches Tandaradei und klassisches Ebenmaß. Seit bald zweihundert Jahren wogt die Debatte nun hin und her. Je nach Ort, Zeit oder Standpunkt gilt die politische Lyrik eines Herwegh, Brecht oder Erich Fried***** mal als Meilenstein engagierter Literatur, mal als Verrat an der Kunst. / Martin Halter, Badische Zeitung 13.4.
*) schöne Reihung. Heute: also anders als bei Sappho, Horaz, Villon etc.
**) Oh really? Wer das sagt, weiß vielleicht nicht, daß der deutsche Dichter Klopstock vor 250 Jahren Verse erfunden hat, die auf Reim und Metrum verzichten, aber nicht auf den Vers. Hat nie seine Frühlingsfeier gelesen oder im Ohr und im Geist ankommen lassen. Hält die Beschreibung des Waldes nach dem Blitzschlag für Zeitungsdeutsch: “Und der geschmetterte Wald dampft” (2 Daktylen und 1 Spondäus). Hat nicht bemerkt, daß Eliot in seinen “Langgedichten” den von ihm auch sonst gebrauchten Blankvers mal hart peitschend (wie die 7 Anfangsverse von Waste Land mit ihren Stakkatoenjambements), mal ruhig-reflektierend umspielt und dabei gelegentlich und nicht zu selten reine Jamben einflicht. Hat die Verse der Poundschen Cantos weder gehört noch gesehen. Hat, in short, davon ungefähr soviel Ahnung wie mindestens der späte Grass.
***) Ich empfehle Lektüre von Archilochos, Theognis, Ovid, Horaz, nur als Beispiel.
****) Übrigens bei Goethe sagt das ein besoffener Student in Auerbachs Keller, der nicht unbedingt als Sprachrohr des Autors zu verstehen ist.
*****) Über den Unterschied von Fried und Brecht weiß der Freitag Genaueres
Gestützt auf seine Ahnungslosigkeit kann der badische Autor Grass als Dichter retten, der tapfer gegen den Mainstream ficht:
So wie ein Gedicht über Apfelbäumchen in Krisenzeiten unter Eskapismusverdacht gerät, steht politische Lyrik, die ihren Namen verdient, immer im Gegensatz zum Mainstream. Ihr Meinen und Sagen sprengt das empfindsame Selbstgespräch nach allen Regeln der Kunst wie den politisch korrekten öffentlichen Diskurs: So war es schon bei Walther von der Vogelweide und Hölderlin, und das gilt erst recht für das 20. [sic!] Jahrhundert.
Atemberaubend ahnungslos. Die Ahnungslosen (früher war das nur ein Tal, heute wohl der Mainstrom?) sind beeindruckt. Am Ende aber wird der Zeitungsschreiber den Mainstream wieder für sich beanspruchen:
Allerdings hat Grass noch nicht recht mitbekommen, dass die große Zeit der politischen Intellektuellen vorbei ist: Er reklamiert selbst dort noch die hoheitlichen Gebärden und Privilegien des Dichterpriesters für sich, wo er als normaler Zeitgenosse spricht.