4.100 v. Ztr.: Die modernen Nordeuropäer entstehen in Ostholstein

Zusammenfassung:Eine neue Studie an DNA-Resten aus 19 spätmesolithischen Skeletten von der Ostseeinsel Bornholm (um 2.500 v. Ztr.) (1) vermehrt die Belege dafür, daß die heutigen Nordeuropäer zu größeren Teilen von den ersten Ackerbauern des Ostseeraumes abstammen und nicht von den vormaligen spätmesolithischen Jägern und Fischern des Ostseeraumes. Dies braucht aber nicht zu heißen, daß die spätmesolitischen Fischer durch Bauern- und bronzezeitliche Kulturen aus ganz anderen geographischen Regionen ersetzt worden sind. Vielmehr wird es sich um eine vergleichsweise kleine Gründerpopulation in Ostholstein gehandelt haben (archäologische Stufe "Wangels"; um 4.100 v. Ztr.), in der auch über kürzere historische Zeiträume hinweg sich stärkere genetische Veränderungen ergeben haben können, und die in Auseinandersetzung - und ggfs. auch Vermischung - mit Menschen der südlicheren Michelsberger Kultur eine neue Ethnie mit neuer Genetik und neuer Lebensweise herausgebildet haben könnte: die Trichterbecher-Kultur.
Diese Feststellungen können wiederum als ein weiterer Hinweis darauf gelten, daß die Humanevolution in einem (dialektischen?) Wechselspiel von Aussterbeereignissen größerer Völkerschaften und Kulturen stattfindet, die mehr oder weniger regelmäßiger wiederkehrend (von weniger komplexer Kulturstufe schrittweise zu komplexerer Kulturstufe fortschreitend) durch das jeweilige explosive Bevölkerungswachstum aus ursprünglich vergleichsweise kleinen Gründerpopulationen
heraus ersetzt werden. Die kleinen Gründerpopulationen wären es dann vor allem, in denen die wesentlichsten genetischen und kulturellen Veränderungen und Neuanpassungen stattfinden, die für den Übergang zu der jeweils nächsten gesellschaftlichen Komplexitätsstufe erforderlich waren (Gen-Kultur-Koevolution).
Die Geschichte des europäischen Frühneolithikums, der ersten Bauernvölker Mitteleuropas, insbesondere aber auch derjenigen Nordeuropas, ist eine ungeheuer spannende. (1 - 13; einen außerordentlich aktuellen Überblick bietet auch: 14) In den Jahrtausenden des Rückzugs des Eises nach der Eiszeit hatte sich in Mitteleuropa schließlich flächendeckend der Wald ausgebreitet, vor allem Lindenwälder. In Nordeuropa hingegen konnten die Menschen noch für viele Jahrhunderte die traditionelle eiszeitliche Lebensweise der Rentierjäger fortsetzen.
In den mitteleuropäischen Urwäldern lebten nur noch vergleichsweise wenige Menschen. Die wenigen Funde, die auf menschliche Besiedlung deuten, werden von der Wissenschaft unter dem Begriff "Mesolithikum" ("Mittelsteinzeit") zusammen gefaßt. Die Mesolithiker lebten vor allem an den Ufern von Gewässern, von Seen, auch an überhängenden Abbruchkanten von Bergen. Schließlich an den Küsten von Nord- und Ostsee. Sie lebten als Rentierjäger, später als Fischer und als Jäger von vielfältigen Wildarten, sowie als Sammler, auch von Muscheln, Baum- und Strauchfrüchten.
Eine neue Lebensweise breitet sich aus (5.500 v. Ztr.)
Über den Balkan breitete sich dann - von der anatolischen Halbinsel aus kommend - die Kultur von Ackerbau und Viehzucht als eine Dorfkultur aus. Durch Begegnung der einheimischen mesolithischen Gruppen mit den neolithischen Dorfkulturen des Balkanraumes formte sich vor allem am Ufer des Plattensees und in seiner näheren Umgebung - also im heutigen österreichisch-ungarisch-mährischen Grenzraum - eine weltgeschichtlich ungeheuer einflußreiche, neue Kultur aus: Die Kultur der Bandkeramiker. Sie ist charakterisiert nicht durch eine Siedlungsweise in kleinen, zu Dörfern zusammengestellten Häusern, sondern durch einzeln oder locker in Weiler zusammen stehende, bis zu 30 Meter lange Langhäuser. Eine weltgeschichtlich völlig neue Art des Siedelns und Wohnens.
Aus einer kleinen Ausgangsregion hervorgehend breitete sich die Kultur der Bandkeramik innerhalb von nur wenigen Jahrhunderten ab 5.500 v. Ztr. über ganz Mitteleuropa bis zum Nordrand der Mittelgebirge aus. Dies war nur möglich durch einen Kinderreichtum, wie er etwa auch noch bei den stark religiös geprägten deutschen Rodungsbauern in Wolhynien im 19. Jahrhundert festgestellt werden kann, die noch im 19. Jahrhundert in Ostpolen eine vergleichbare Arbeit an Rodungsarbeit geleistet haben wie sie auch für die Bandkeramiker 7.500 Jahre zuvor vorausgesetzt werden muß. (s. Stud. gen.)
Die noch pferde- und räderlose Kultur der Bandkeramik existierte etwa 800 Jahre lang und wurde von nachfolgenden kleinräumiger verteilten Bauernkulturen abgelöst. Jedoch erreichten alle nachfolgenden Bauernkulturen in Mitteleuropa bis zum Frühmittelalter niemals mehr die vergleichsweise hohe Siedlungsdichte der Bandkeramiker. (Siehe frühere Beiträge auf St. gen..) Dieses Charakteristikum und noch so manches andere deutet auf die Besonderheit und Einzigartigkeit der Kultur der Bandkeramik hin.
Im Ostseeraum wird man moderner, bleibt aber bei der Lebensweise der Fischer und Jäger (5.100 v. Ztr.)
In der norddeutschen Tiefebene kam es zu Begegnungen und Kulturkontakten der südlichen, seßhaften Bandkeramiker mit dort lebenden, bislang nur halbseßhaften mesolithischen Gruppen. Sicherlich auch auf diese Einflüsse zurückzuführen ist die Ausbildung einer vergleichweise siedlungsdichten, spätmesolithischen Kultur im Ostseeraum, nämlich der "Ertebølle"-Kultur (seit 5.100 v. Ztr.), wahrscheinlich aus der dort bestehenden, siedlungsärmeren mesolithischen Vorgängerkultur heraus. Diese Menschen der Ertebølle-Kultur lebten an der Küste der Ostsee - zeitgleich zur Bandkeramik - vor allem von der Jagd und vom Fischfang.
Zur Zeit des Untergangs der Bandkeramik, um 4.750 v. Ztr. herum, ging auch die Ertebølle -Kultur in eine zweite, jüngere Phase über, die vor allem dadurch charakterisiert ist, daß nun auch im Ostseeraum Keramik benutzt wurde.
Tausend Jahre später: Auch im Ostseeraum beginnt sich die neue Lebensweise vollständig zu etablieren (4.100 v. Ztr.) ...
Um 4.100 v. Ztr. wird die Ertebølle-Kultur an der Südküste der Ostsee und in Dänemark abgelöst von der berühmten Ackerbau und Viehzucht, also Milchwirtschaft betreibenden Trichterbecher-Kultur, die ab 3.500 v. Ztr. auch ihre berühmten Großsteingräber errichtet.
An der Südküste Schwedens, der Nordostküste Dänemarks und an der Südküste Norwegens, sowie auf den Schweden benachbarten Ostsee-Inseln wie Gotland und Aaland hielten die Menschen jedoch außerordentlich zäh und konservativ an der bisherigen mesolithischen Lebensweise fest. Hier entstand etwa zeitgleich mit der Trichterbecher-Kultur und dauerte parallel zu ihr fort die spätmesolithische Kultur der Grübchen- oder Kammkeramik (Wiki engl.). Eine Kultur von Jägern und Fischern. Mit Übernahme der Schaf- und Schweinehaltung dauerte diese Kultur sogar bis weit in die Bronzezeit hinein fort, als etwa bis 2.300 v. Ztr.. Sie erlebte damit auch noch die Überlagerung der nordeuropäischen Trichterbecherkultur durch die indogermanischen Schnurkeramiker (den erstmals berittenen "Streitaxt"-Leuten) - ursprünglich wohl aus dem Nordschwarzmeer-Raum stammend - mit.
... aber letzte Jäger- und Fischerkulturen des Ostseeraumes halten zäh an der alten Lebensweise fest (2.300 v. Ztr.)
4.100 v. Ztr.: Die modernen Nordeuropäer entstehen in OstholsteinIn der nordeuropäischen Archäologie ist es nun eine seit Jahrzehnten diskutierte Frage, ob die Trichterbecherkultur direkt von der Ertebølle-Kultur abstammt oder ob es zu einem umfangreicheren Bevölkerungswechsel bei der Ablösung der beiden Kulturen gekommen ist. In einer neuen Studie, veröffentlicht am 24. September, wurden 19 Skelette der Grübchen-Keramik-Kultur, die auf der Insel Gotland (siehe Karte rechts) begraben worden waren, auf Reste von mitochondrialer DNA hin untersucht. (1; siehe auch: Dienekes) Die Skelette werden auf 2.800 bis 2000 v. Ztr. datiert.
Man fand in diesen Skeletten vor allem mitochondriale DNA der Haplogruppen U4/H1b, U5 und U5a. Eine genauere Analyse und der Vergleich mit heute in Nordeuropa lebenden Bevölkerungen zeigt, daß diese Haplogruppen noch am ähnlichsten Haplogruppen der heute in Lettland und angrenzenden Ländern lebenden Menschen sind. Nicht aber Haplogruppen von Menschen, die heute sonst noch rund um die Ostsee leben und deshalb wahrscheinlich zu größeren Anteilen eher von den Trichterbecherleuten (vermischt zu bislang nicht bekannten Anteilen mit den Schnurkeramikern) abstammen.
Nachdem Untersuchungen von DNA-Resten in Skeletten der Bandkeramiker, der Etrusker oder des "Ötzi" (St. gen.) schon viele Hinweise dafür lieferten, daß die Gene jeweils zuvor großer Völkerschaften im Großen und Ganzen heute als genetisch ausgestorben angesehen werden müssen, scheint dies nun auch für die spätmesolithischen Kulturen des Ostseeraumes, also für die Ertebølle- und Grübchenkeramik-Kultur gelten zu müssen. Am ehesten scheint noch in baltischen Ländern wie Lettland ein genetisches Erbe dieser Kulturen fortzuleben. Hier erfolgte der Umbruch zur seßhaften Lebensweise offenbar noch weniger plötzlich als im nördlichen Ostseeraum, wodurch sich ansässige Jäger und Fischer zu Bauern wandeln konnten, ohne dabei zu stark von neu zuwandernden Bevölkerungen genetisch verdrängt zu werden.
Die vormals oft von Archäologen geäußerte Vermutung, daß die Spätmesolithiker im Ostseeraum Verwandtschaft mit den heute noch in Finnland lebenden Saamen aufgewiesen haben könnten, konnten durch diese neue DNA-Studie auffallenderweise nicht bestätigt werden.
Eine Population mit neuer Kultur - und mit neuer Genetik
Damit festigt sich eine Erkenntnis, für die man schon in vielen anderen Fällen Hinweise erkennen konnte, nämlich zu der Frage, wie Humanevolution und Weltgeschichte in den groben Zügen überhaupt abläuft. Und wie dabei vor allem jüngste Selektionsereignisse im menschlichen Genom sich etablieren konnten, wie sich der jeweilige anthropologische Typus genetisch ändern konnte bis heute. Und wie das deshalb voraussichtlich auch künftig geschehen wird. Dies wird vornehmlich dadurch geschehen, daß vormals kleine Gründerpopulationen, wie sie etwa auch für die Trichterbecherkultur in der Stufe Wangels in Ostholstein angenommen werden kann, bevölkerungsmäßig anwachsen und sich ausbreiten in weite Räume hinein, in Räume, die zuvor von anderen Populationen bewohnt worden waren, deren Gene mittelfristig in der Geschichte größtenteils aussterben - aufgrund von Prozessen, die künftig sicherlich noch detaillierten zu charakterisieren sein werden. Neue, einwandernde, siedlungsdichtere Kulturen und ihrer Träger etablieren in einem Raum neue auch genetische Selektionsbedingungen, unter denen sich die zuvor Einheimischen nicht mehr so erfolgreich fortpflanzen wie zuvor.
Für alle Fragen, die in Diskussionen rund um das Theorem der "Gruppenselektion" aufgetaucht sind, dürften solche Erkenntnisse aus der unmittelbaren Empirie künftig immer größere Bedeutung erlangen. Und man wird immer mehr erkennen, daß man die "Bevölkerungsweise" einer Bevölkerung, ihr "demographisches Regime" im Sinne von Gerhard Mackenroth - und anderer Historischer Demographen - sehr genau analysieren muß, wenn man die hier vorliegenden Prozesse möglichst detailgenau charakterisieren will.
Die modernen Nordeuropäer und ihre Genetik
Auch bekommt man durch diese neuen Erkenntnisse einen schärferen Blick darauf, wie und unter welchen Umständen die nordeuropäischen Bevölkerungen mit ihrem typischen und auffälligen genetischen Merkmalsmuster - u.a.: blonde Haare, blaue Augen (St. gen.), die Fähigkeit, im Erwachsenenalter Rohmilch verdauen zu können (St. gen.), die Fähigkeit, Alkohol in größeren Mengen zu sich nehmen zu können, unter ihnen vergleichsweise hohe Anteile von Trägern der Hyperaktivitäts-(ADHS-)Gene, vergleichsweise wenige Trägern von Genen, die einen anfällig machen für Depressionen (Serotonin-Transporter-Gene) (s. Spektr. d. Wiss.), sowie mit vergleichsweise hohem Intelligenz-Quotienten - entstanden sein könnten. Vor allem die Erkenntnis der letzten Jahre, daß die Genmutation, die blaue Augenfarbe hervorruft, weltweit ursprünglich auf nur einen oder wenige Merkmalsträger zurückgeführt werden kann (St. gen.), deutet auf eine sehr kleine Gründerpopulation hin, die im Ostseeraum wird gesucht werden müssen.
Wenn nun die heutige Bevölkerung im Ostseeraum höchstwahrscheinlich genetisch so im allgemeinen nicht von den zuvor im Ostseeraum ansässigen Mesolithikern abstammt, wie die neue Studie aufzuzeigen scheint, wird im Wesentlichen die Trichterbecherkultur übrig bleiben, die ja auch die Fähigkeit, als Erwachsener Rohmilch verdauen zu können, im Zusammenspiel mit der Milchviehhaltung evoluiert haben wird.
Steht eine etwaige Siedlungskontinuität in Ostholstein seit dem Spätmesolithikum im Widerspruch dazu?
Zur Entstehung der Trichterbecher-Kultur sind der Forschungsliteratur unter anderem folgende Angaben zu entnehmen (11):
In Wangels läßt sich zwischen 4.300 und 4.100 v. Chr. ein kleiner Niederschlag der Ertebølle-Kultur nachweisen. In dieses Inventar gehören auch die ersten Knochen von Haustieren. Nach 4.100 v. Chr. tauchen dann völlig neue Gefäßformen auf, die mit kleinen, fast unmerklichen Neuerungen im Steinwerkzeuginventar vergesellschaftet sind. Von nun an bilden Nutzviehhaltung und Getreideanbau die Basis für die Nahrungsmittelproduktion. (...)
Als Auslöser für den kulturellen Wandel machten die Steinzeitforscher übrigens eine Kultur aus, die um 4.200 v. Chr. vom west- und mitteldeutschen Raum aus eine starke kulturelle Dynamik entfaltet: die sogenannte Michelsberger Kultur.
Der Prozeß der Neolithisierung, der "Verbäuerlichung" wurde also an der südlichen Ostseeküste von der einheimischen Bevölkerung getragen, wie die Forscher meinen (12):
Dafür spricht die an mehreren Orten zu beobachtende Platzkontinuität. Einige Küstensiedlungen wie Rosenhof und Wangels bestanden hunderte von Jahren und überdauerten den Wechsel von der Ertebølle- zur Trichterbecher-Kultur.
Platzkontinuität muß noch nicht heißen, daß die Ortsansässigen sich nicht dennoch mit Menschen der Michelsberger Kultur könnten vermischt haben bei der Akkulturation an die seßhafte Lebensweise. Auch bei der Entstehung der Bandkeramik am Plattensee findet man ja in diversen "Mischformen" der Siedlungsweise "Platzkontinuität" vor. Und dennoch darf davon ausgegangen werden, daß hier zugleich auf genetischem Gebiet sich sehr viele Selektionsprozesse abgespielt haben können. Man wird hier einfach noch weitere Forschungsergebnisse abwarten müssen. (Siehe dazu auch --> Sincos.)
Es werden jedenfalls sehr spannende Ereignisse gewesen sein, die sich in der norddeutschen Tiefebene zwischen Hude am Dümmer, dem Nordrand des Harzes und Ostholstein bei der Herausbildung der frühen Trichterbecherkultur abgespielt haben werden - unter Einflußnahme älterer Bauernkulturen aus dem Süden.
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Literatur
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