40. Rückblende März 2001: Zwischen Wunderland und Widerstand

Von Lnpoe

Die isländische Schriftstellerin Steinunn Sigurdardottir erklärt Deutschland zum  „Wunderland für Lyrik“: „das einzige Land, wo Lyrik verkaufbar ist“. Michael Braun schreibt über die „dunkleren Traditionen des Leonce-und-Lena-Wettbewerbs“, dazu gehöre „die Ignoranz der Vorjurys, die mit blamabler Beharrlichkeit die interessanten jungen Dichter dieser Jahre einfach übersahen“. Thomas Kling zum Beispiel.

scheinschlag hat Ansichten zu „Matthias“ BAADER Holst, „Untergrundpoet, Punk, Anarchist, Vagant, Dadaist, radikaler Künstler, Rebell“, aber auch ein

performender Dichter mit asketischem Körper, ungezügeltem Intellekt und dem Machtapparat einer Sprache, die nicht leicht mit ihm zu teilen war. Den Kopf kahl rasiert wie einer, der das Äußere ganz von sich abschneiden will. Ein Nosferatu-Typ, auratisch, mit einer hohl klingenden, dunklen Orakelstimme. Eine wie der Dadaist Johannes Baader „charismatische Begnadung“.

Die englische Lyrik beginnt mit Runen, Rätseln und mit einem analphabetischen Schäfer, dem von einem Engel aufgetragen wird, Loblieder auf Gott zu singen: Caedmon.

Die Greifswalder Literaturzeitschrift „Wiecker Bote“ stellt ihre Autoren Angelika Janz und Richard Anders während der Leipziger Frühjahrsmesse im Gohliser Schlößchen vor. Angelika Janz liest aus dem in Vorbereitung befindlichen Lyrikband „Unter Strom im Frühlicht“. Richard Anders liest Gedichte und poetologische Texte unter dem nicht zufällig an André Breton erinnernden Titel „Wolkenlesen“.

Ingrid Fichtners Gedichte wehen von irgendwo her. Und einen Schlusspunkt setzen sie selten. Kito Lorenc schreibt im Widerschein des Sorbischen und Karel Hynek Mácha ist der Heine der Tschechen.

Es starben der  Petersburger Nonkonformist Viktor Kriwulin, der Amerikaner A.R. Ammons (schon am 25. Februar) und die kubanische Dichterin Rafaela Chacon Nardi.

Für Brinkmann ist es nie zu spät, meint die Berliner Volksbühne, und die Hamburger „Welt“ weiß, daß Lyrik nicht „quälende Unverständlichkeit“ heißt. Unter der Überschrift „Als wir alle Brandstifter waren“ schreibt der serbisch-amerikanische Lyriker Charles Simic über seine Joschka-Jahre (und meint nicht „Joschkas“ Tätigkeit für Atomkonzerne). Auch Volker Braun gedenkt des Straßenkämpfers und schreibt in der FAZ (!) die Geschichte um:

Man mußte sich nur vorstellen, daß er, der Lismus, in den Westen käme. Undenkbar war das nicht. — Zuerst die Währungsreform, das war der Köder, der Umtausch der DM in Mark. 1 : 5, zugleich wurden die Preise gesenkt, Wahnsinn, die Mieten. Ein ständiger Sommerregen aus dem Staatshaushalt. Die Konzerne (Kombinate) der Plankommission unterstellt, je genauer die Planung, desto härter trifft uns der Zufall. Die Arbeitsämter geschlossen, „keine Leute“ hieß es auf einmal in Bochum. Die entbehrlichen Professoren ins Neuland geschickt, für die Buschzulage, gefestigte Gewi-Dozenten missionierten das Grundlagenstudium. Von Schnitzler, reaktiviert, übernahm es, das Bayerische Fernsehen auf Linie zu bringen. „Die Zukunft sitzt“, wie der Dichter Kunze sagt, „am Tische“.

Natürlich wurde uns Ost-Überheblichkeit nachgesagt, wenn wir drüben die Demokratie einführten. Dem Westler nützt ja nun, in dem fortgeschrittenen System, seine Erfahrung wenig, er mußte erst lernen, richtig zu denken, sich anzustellen und zu warten. Während wir, so ins Recht gesetzt, endgültig verblödeten und ihre Dienstjahre annullierten, weil wir neue Persönlichkeiten erzogen. … Und ich vergaß mal meine kritischen Ambitionen; wohingegen sie ihre linke Vergangenheit auftrugen, die Studienräte und Redakteure. Joschka Straßenkämpfer. … Und sie erlebten einmal eine Revolution.

Eines der grossen programmatischen Dichtwerke der klassischen Moderne wurde erneut zugänglich und lesbar gemacht mit «Eventail (für Stéphane Mallarmé)». Es gibt sie noch, die wagemutigen Verleger, zum Beispiel auch jene,

die Neues entdecken und jüngeren Talenten zum Durchbruch verhelfen, Verleger, denen Literatur und vor allem die anspruchsvolle Gattung Poetik persönlich noch etwas bedeuten. Urs Engeler ist einer von ihnen. Seit 1992 gibt er «Zwischen den Zeilen» heraus, eine «Zeitschrift für Gedichte und ihre Poetik», die sich in verhältnismässig kurzer Zeit durchsetzen konnte, weil sie es nicht allein beim Abdruck von Gedichten bewenden lässt, sondern die Autoren gleichzeitig auffordert, sich über ihr Geschaffenes essayistisch zu äussern.

Alle feiern die Dichterin Elisabeth Borchers zum 75. Geburtstag. Für die FAZ begann es mit einem Skandal, berichtet die FR:

Im Juli 1960 veröffentlichte die FAZ eia wasser regnet schlaf, ein Gedicht der zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Lyrikerin Elisabeth Borchers. Der Text, eine wunderbare, im Ton des Wiegenlieds gehaltene, zwischen Traum und Wirklichkeit oszillierende Imagination, die eine vermeintliche Begegnung mit einem „ertrunkenen Matrosen“ tatsächlich nur auf einer rein assoziativ arbeitenden Ebene anklingen lässt, erregte die Gemüter der Leser. Von einer „schizophren Stammelnden“ war die Rede, ja sogar einmal mehr von „entarteter Kunst“.

Ein junger Dichter,  Jan Wagner, vermag es, den Alltag in Schönheit zu verwandeln, und der Tagesspiegel berichtet vom „Kuwaitischen Widerstand“, der klingt so:

„Ach, das Stöhnen dringt / aus dem tiefen Berg des Bewusstseins / und der verräterische Stich / enthüllt die Wut der Herzen.“ Deutsche Romantik? Nein: arabische Postmoderne. Die Verse …  stammen von Khazna Buresly und finden sich in einer Lyrik-Anthologie, die zugleich politische Streitschrift ist. „Das Echo kuwaitischer Kreativität“, heißt sie.