Rainer Schedlinski war einer der Herausgeber des essayistisch veranlagten Periodikums ariadnefabrik. (Der Name des zweiten Herausgebers soll an dieser Stelle ungenannt bleiben, da es als sicher gelten kann, dass er keinerlei Wert darauf legt, mit einer Hefte-Folge in Verbindung gebracht zu werden, deren Abonnent das Ministerium für Staatssicherheit war.) Über den Denunzianten Rainer Schedlinski zu sprechen bedeutet in der üblichen Weise, zumeist über den Dichter und Denker zu schweigen. Und dies meint wohl kaum die vielzitierte Trennung von Dichter und Werk, welche ohnehin nach Belieben aufgehoben ist, wenn es darum geht, die Gedichte und Essays als persönliche Verpflichtungserklärung oder als verspiegeltes Geständnis gegenzulesen. Rainer Schedlinski war ja nicht nur ein inoffizieller Mitarbeiter, sondern auch ein bekennender Struktualist.
(Nein, soviel Zartsinn vermag ich nicht aufzubringen. Da mach ich gern den Spielverderber. „Einer wird hier überhaupt nicht erwähnt“. Das schrieb Andreas Koziol im Gedicht „Tradition der Differenzen“, in: Andreas Koziol: sammlung. edition qwert zui opü 1996, S. 29. Das Gedicht ist eine Replik auf sein Szenegedicht „Addition der Differenzen“. Der eine, der hier überhaupt nicht erwähnt wird: oder sind es zwei? Die Abwesenheit ist ja eine Grundfigur des Strukturalismus, das Paradigma. Andreas Koziol war der zweite Herausgeber der Ariadnefabrik. Weglassen ist immer Verarmen, Moral fehl am Platze, wenn es um Verstehen geht. 1990 erschien „Abriß der Ariadnefabrik“ in der Edition Galrev, da waren Anderson und Schedlinski noch nicht enttarnt, glaub ich.) Weiter im Text:
Seine Gedichte sind von einer kargen Sprache, deren Nüchternheit an Teilnahmslosigkeit grenzt. Die Worte sind nur das, was sie sagen, ihre Eindeutigkeit zielt auf eine unverstellte Sicht der Dinge. Auf den Irrsinn eines verrückten Systems weisend, denken seine Essays die Verhältnisse vom Kern ihres ganzheitlichen Irrtums her. Sie erkannten, was offensichtlich war und dennoch offensichtlich neben der Erkenntnis lag.
Man liegt nicht falsch, Rainer Schedlinski einen aufgeklärten Geist zu nennen, der Kritik an der Aufklärung übte. Die Aufklärung rotierte ihm um Denkfiguren, die nicht von der tatsächlichen Gestalt eines gesellschaftlichen Phänomens ausgingen, sondern von einem Ideal, welches sie postulierte und damit sozusagen zielgerichtet verfehlte. Die Einsichten Schedlinskis hatten durch ihre zirkuläre Verbreitung eine äußerst begrenzte Wirkung und absurderweise war er als Stasi-Zuträger auch noch subversiv gegen die eigene Subkultur, welche letztlich seine einzige, aber betrogene Leserschaft darstellte. Dennoch waren seine Aufsätze im Idealstaat DDR von einiger Brisanz, selbst wenn damals alles brisant war, was vom Staatsnarzismus abwich. Die Brisanz seiner Essays machte jedoch vor dem Irrsinn der eigenen Person halt. Er predigte Einsicht in die Verhältnisse und agierte verdeckt in ihnen.
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Hier geht es ja nicht allein um die Umwandlung von Wärme in Energie, es ist die Wandlung von Poesie in ihr Gegenteil, in eine reine Funktionalität. Letztlich wird diese Entwicklung aber auch der Erkenntnis geschuldet sein, dass die eigene Sprache nicht länger imstande ist, Energien freizusetzen, indem sie z.B. Wärme oder Kälte erzeugt. Den Texten war es nicht länger möglich, durch eine runtergeregelte Empathie zu glänzen, mit der Rainer Schedlinski einmal sprach: ernst sind die äcker & ernst / die häuser vor den äckern / die hecken sind / ernst und gezeichnet.
Heute schreibt er: thermalforce.de liefert thermoelektrische Generatoren, Zubehör für deren thermische und elektrische Montage, sowie einsatzbereite Generatorenmodule. Zudem finden Sie hier eine große Auswahl an Kühlkörpern, Wärmetauschern, Anschlüssen, Pumpen, Reglern, Wärmeleitmitteln, Meßgeräten und sonstigem Zubehör. Dies ist der Gebrauchstext für ein neutrales Sujet, die Lyrik einer kalten Funktionalität und daher die Fortsetzung der Poesie mit anderen Mitteln. Die tradierte Lesart einer solchen Wandlung wäre wohl die des Verräters, der zum biederen Einzelhändler wird. Es ergäbe wenig Sinn und würde der Person Schedlinskis nicht gerecht, einen Denunzianten zu denunzieren.
Aufgeladener ist die Interpretation, dass sich der Dichter eines kühlen Sprechens dem Handel von Wärmeleitmitteln widmet. So abwegig diese Entwicklung scheinen mag, sie ist geradlinig. Rainer Schedlinski könnte erkannt haben, dass es ein letzter Akt des Sprechens ist, zu schweigen, wenn einem niemand mehr eine Zeile abnimmt, geschweige denn ein Wort glaubt. Die Hingabe an die Erzeugung von Energie durch Wärme mag eine Folge der Kälte sein, mit der man seiner Person heute begegnet. / Henryk Gericke, der Freitag
Die Freitag-Sonderausgabe zu 20 Jahren Einheit. Mit Beiträgen von Sascha Anderson, Daniela Dahn, Samy Deluxe, Rainald Goetz, Jakob Hein, Jana Hensel, Tom Kummer, Jonathan Meese, Harry Rowohlt u.v.a Jetzt am Kiosk oder hier auf freitag.de
Uwe Warnke / Ingeborg Quaas (Hg.): „Die Addition der Differenzen. Die Literaten- und Künstlerszene Ostberlins 1979 bis 1989. Berlin: Verbrecher Verlag 2009. (Darin enthalten die beiden „Differenzen“-Gedichte von Koziol)