35. Das Schweigen der Dichterinnen und wie wir es lesen können

Von Lnpoe

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Im Folgenden aber werde ich, wenn man so will, eine weibliche und komparatistische Hölderlin-Linie nachzeichnen. Der philosophische Kronzeuge und Stichwortgeber wird dabei nicht Wittgenstein, sondern Simone Weil sein. Zu entdecken in der Linie von Emily Dickinson, Simone Weil, Nelly Sachs, Ilse Aichinger und Sujata Bhatt ist ein engagiertes Schweigen, das dem literarischen Kanon nicht inhärent ist, sich ihm vielmehr zu widersetzen versucht. Wer sich aber schweigend dem Kanon zu widersetzen versucht, dem ist der eigentliche Erfolg literarischer Arbeit, das Aufnehmen in den Kanon, strenggenommen ein Scheitern. Wer etwas sagt, muss damit rechnen, dass das Gesagte vielleicht tradiert wird. Das Tradierte ist möglicherweise Teil des Kanons. Wer aber schweigt? Ziel des engagierten Schweigens ist die Nichtaufnahme in den Kanon, nicht aber unbedingt ein Vergessen des Schweigens. Im Gegenteil ist das sich widersetzende Schweigen umso mehr geeignet, in Erinnerung zu bleiben.
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Engagiertes Schweigen ist demnach ein bewusstes, ausdrücklich gewolltes und herbeigeführtes Schweigen, kein Schweigen aus Verlegenheit und Nichtwissen, sondern aus einem Wissen und aus einem Engagement heraus. Unter diesem Engagement hat man sich ein fundamentales Misstrauen gegen Bestehendes, einen Widerstand gegen alles Konforme und Festgelegte vorzustellen. Aichinger führt entsprechend in ihrer Dankrede weiter aus: „Im Namen von Nelly Sachs mit der Freude konfrontiert zu werden, heißt aber zugleich, mit einer Angst konfrontiert zu werden, die sich durchsteht, mit Finsternis, die sich nicht ausweicht, mit Trauer, die allem offenbleibt.“ Aichinger legt mit ihrer Dankrede eine überaus treffende Analyse und Interpretation des Schweigens bei Sachs vor.

Doch ist in Aichingers Ausführungen zu Sachs mindestens genauso sehr sie selbst als Dichterin angesprochen. Aichinger sieht sich offenbar als eine der „Wachen an den Rändern der Welt“, als eine von Sachs’ genauen Lesern. In der Tat hatte Aichinger schon 25 Jahre vor ihrer Dortmunder Dankrede zu einem fundamentalen Misstrauen und zu Widerstand aufgerufen. „Sich selbst müssen Sie mißtrauen!“ heißt es in ihrem „Aufruf zum Mißtrauen“. Anders als beim Misstrauen gegen das Ich bei Simone Weil steht das Ich bei Aichinger nicht in Frage, weil es gilt, die Anwesenheit Gottes zu ermöglichen, sondern das Vertrauen, das Gespräch, schließlich das Leben nach dem Krieg wieder möglich zu machen. Dieses frühe Misstrauen gegen das Ich und der generelle Widerstand gegen Bestehendes finden sich in allen Texten Aichingers und führen wie bei Sachs und Weil zu einem engagierten Schweigen.
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Einige Auszüge aus einem ihrer bekanntesten Gedichte, „Search for My Tongue“, verdeutlichen exemplarisch ein übersetzendes und wie schon bei Sachs körperlich existentielles Schweigen und Suchen: „Days my tongue slips away. / I can’t hold on to my tongue. / It’s slippery like the lizard’s tail / I try to grasp / but the lizard darts away. // (mari jeebh sarki jai chay) / I can’t speak. I speak nothing. / Nothing. // (kai nahi, hoo nathi boli shakti) / I search for my tongue. / (paranthu kya shodhu? Kya?) / (hoo dhoti dhoti jaoo choo) / But where should I start? Where? / I go running, running, / (nadi keenayray pohchee choo, nadi keenayray) / reach the river’s edge. / Silence.“

Dies sind nur Auszüge aus dem dreiteiligen, mehrstrophigen Langgedicht, das sowohl Passagen in Bhatts Muttersprache Gujarati als auch die Übersetzung dieser Passagen ins Englische, ihrer zweiten Sprache, enthält. Das Gespräch über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg, das Übersetzen der Philosophie Weils in die eigene Poetik durch Sachs etwa, dieses Übersetzen ist hier Teil und Thema ein und desselben Gedichts. Das notwendige, unhintergehbare Übersetzen führt jedoch innerhalb des Sprechens einer Person immer wieder zum Schweigen: „I speak nothing. / Nothing.“
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Florian Strobl / literaturkritik.de