„Die besten deutschen Gedichtbände 2010″ nannte ich einen Vortrag, der hier angekündigt wurde. Proteste gab es nicht. Aber er war als Provokation gedacht. Ich glaube nicht an ein „absolutes Gehör“ für Lyrikkenner. Ich werde mißtrauisch, wenn jemand mit Bestimmtheit sagt, DER sei sehr gut oder DIE sehr schlecht. In der Regel will er oder sie damit etwas erreichen. Den eigenen Favoriten herausstreichen, mögliche Konkurrenten niedermachen. Nicht zuletzt den eigenen Rang als Kenner bekräftigen. Wer immer nur lobt. wird ausgeschlossen.
Ich habe die Formulierung von „schlechten Zeilen“ und „schlechten Gedichten“ auch in meiner Juryarbeit in den vergangenen Jahren oft gehört. Manchmal auch in Bezug auf Autoren, die dann das Rennen machten. Manchmal auf solche, die ich für ernsthafte Favoriten hielt, jemand anders aber nicht. Beim Huchelpreis gibt es sieben Juroren, alle zwei Jahre werden 3 oder 4 ausgetauscht. Vor 2 Jahren waren es 4 Neue – das änderte viel. Ich vermute, daß die Preisträger von 2008 und 2009, so unterschiedlich sie sind und so anders die Mehrheit jeweils zustandekam, mit der neuen Zusammensetzung nicht gewonnen hätten. Außer im Fall von Mayröcker 2010 waren es immer knappe Mehrheiten. Und Mayröcker hat ja schon zuvor oft Gedichtbände veröffentlicht – offenbar hatte sie vorher jeweils keine Mehrheit und nun eine klare.
Welches die besten oder „herausragenden“ Gedichtbände des Vorjahrs sind? Axel Kutsch und ich haben uns im Januar ein paar Namen zugerufen, er nannte „Das zweite Meer“ (Andreas Altmann), „Blinde Bienen“ (Kathrin Schmidt), „im felderlatein“ (Lutz Seiler) und „Frenetische Stille“ (Ron Winkler). Ich legte nach: Ann Cotten, Florida-Räume; Paulus Böhmer, Am Meer. An Land. Bei mir. Christoph Meckel, Gottgewimmer. Johanna Schwedes, Den Mond Unterm Arm. Wilhelm Bartsch, Mitteldeutsche Gedichte. Thomas Böhme, Heikles Handwerk. Nicht jeder wird so eine Liste konsensfähig finden – jedenfalls nicht in allen Teilen. Es war aber ein spontanes Zurufen, keine wohlabgewogene, geschweige denn abgestimmte Liste. (Sonst müßte ich sagen: Jan Wagner, Australien. etc. Raum zum Selbereintragen …………………………………………………………………………………………………………………………………
So, und jetzt ich wieder: warum nicht Dieter Schlesak, Der Tod ist nicht bei Trost? Ferdinand Schmatz, quellen? Uljana Wolf, falsche freunde? (Richtig, die hat den Huchel schon, der darf nur einmal vergeben werden). Warum nicht, wenn wir Debüts dabeihaben, Uljana Wolf bekam ihn ja ebenfalls für ihr Debüt, Martina Hefter, Nach den Diskotheken? Bernhard Saupe: Viersäftelehre? Konstantin Ames oder Christian Filips mit ihren roughbooks? Ich bin mir sicher, jeder Leser wird Einwände, vielleicht heftige, gegen die ein oder andere Nennung haben. Nicht jeder auch wird alle gelesen haben. Vielleicht nenne ich den ein oder andren ja nur deshalb nicht, weil ich ihn nicht gelesen habe. (Die hier genannten hab ich aber alle gelesen). Mancher wird auch von schlechten Gedichten oder wenigstens schlechten Versen sprechen. Aber läßt es sich beweisen? Ich glaube nicht an das Prinzip der Größe, an das absolute Gehör, das ist Priestertrug. Das gibts im „Großfeuilleton“ ebenso wie in den einzelnen Szenen, natürlich je verschieden. Aber in keinem Fall wird es sich beweisen lassen. Ich glaube an das Prinzip der Liste, an das Diskutieren und Aushandeln. In der Demokratie bestimmen die Dummen, wer uns regiert? Mag sein, aber sollen wir deshalb die Monarchie zurückfordern? Dumme Monarchen gibts auch.
Hier kann man abstimmen. (Ehrencodex: Bitte nur Namen von Autoren nennen, deren Bücher Du gelesen hast / Sie gelesen haben!)
Vgl.