Die Lyrik ist das Mauerblümchen des literarischen Lebens. Als aber vor hundert Jahren, am 11. Januar 1911, in der Zeitschrift „Der Demokrat“ zum ersten Mal das Gedicht „Weltende“ von Jakob van Hoddis erschien, wurde es sogleich zu einer Sensation. Es muss gleich gezündet haben, viele waren sich augenblicklich sicher, dass da ein neues, nervöses Lebensgefühl gültig formuliert war – das expressionistische.
Einer, der damals dazugehörte und bebende Gedichte voller Ausrufungszeichen („Berlin! Du weißer Großstadt Spinnenungeheuer! / Orchester der Äonen! Feld der eisernen Schlacht!“) schrieb, war Johannes R. Becher, der sich später von seinen literarischen Anfängen distanzierte und am Ende zum Staatsdichter und Kulturminister der DDR avancierte. Doch selbst da noch, vierzig Jahre später, hatte ihn der „Weltende“-Zauber nicht losgelassen: „Diese zwei Strophen, o diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben. Diese acht Zeilen entführten uns. Immer neue Schönheiten entdeckten wir in diesen acht Zeilen, wir sangen sie, wir summten sie, wir murmelten sie, wir pfiffen sie vor uns hin, wir gingen mit diesen acht Zeilen auf den Lippen in die Kirchen, und wir saßen, sie vor uns hin flüsternd, mit ihnen beim Radrennen.“* / Thomas Schmid, Die Welt
*) und mit Verlaub, wenn Becher so spricht (kein anderer konnte es sich Anfang der 50er Jahre leisten, so über die „spätbürgerliche Dekadenz“ zu sprechen, er wußte das und tats, und mancher Leser las es mit heißen Ohren), sollte man vielleicht seine eigene Distanzierung relativieren und nicht immer wieder bloß als Schublade restituieren