Adlers «Gesammelte Gedichte» liegen nun erstmals vollständig in einer mustergültigen Edition vor. Sie gelten Hauptmotiven wie dem Blick, den Jahreszeiten, dem «Gedächtnis». Diese Gedichte sind lyrisches Gedächtnis. Mnemosyne, nach Hesiod die Mutter der Musen, stand Pate, Gedicht um Gedicht. «Scharf hinzuhören in die Muschel des Gedächtnisses . . . Mut. Uferlose Trauer / Schürft uns die Hitze vom Grund, der / Atem ist den Waisen ergraut und sie / Schreien den Vater, der kommt nicht / Hervor.» So beginnt Adlers Gedicht «Steinerner Gast». Vers und Strophe sind genau gefügt; einen freien hymnischen Ton gestattete er sich selten. …
Seine Lyrik verzichtet auf expressive Neologismen. Etymologisches Wissen (bei einer Celan-Lektüre unabdingbar) fordern diese Gedichte selten; entsprechend schlank können die Kommentare ausfallen.
Diese Gedichte des Prager Schriftstellers speisen sich aus anderen Quellen, noch einmal gesagt: dem Unverhofften. «Ins Harz der Not verschlungen, graues / Gericht, zerschlagen Stein und Bein, fährt Wild steil in sein Nichts ein Grubenlied / Verschollenen Gelächters.» Hier werden keine Worte aufgebrochen; Auslassungszeichen sind überflüssig. Hier steht, was stehen soll, eine, sagen wir, Wortanmutung, eine hermeneutische Herausforderung, eingeleitet etwa durch die Überschrift: «Der letzte Ruf verschreit»
/ Rüdiger Görner, NZZ 6.8.
H. G. Adler: Andere Wege. Das lyrische Gesamtwerk. Herausgegeben von Franz Hocheneder und Katrin Kohl. Drava-Verlag, Klagenfurt 2010. 1198 S., Fr. 70.90.