Im alten Griechenland gehörten literarische Veranstaltungen untrennbar zu Sportwettkämpfen, bei denen bekleidete Autoren genau so beliebt sein konnten wie nackte, von Olivenöl glänzende Athleten. Die Sieger beauftragten große Dichter wie Pindar mit dem Abfassen der Siegerhymnen, die bei üppigen Banketten von Knabenchören gesungen wurden.
Kritik konnte brutale Formen annehmen: Als der sizilianische Diktator Dionysius im Jahr 384 v.d.Z. mittelmäßige Gedichte vortrug, bekam er von entrüsteten Sportfans Schläge und sein Zelt wurde verwüstet.
Im 20. Jahrhundert war Lyrik eine Olympia-Sportart, bei der Medaillen gewonnen wurden. 1912 in Stockholm waren Literatur, Musik, Malerei, Bildhauerei und sogar Architektur olympische Veranstaltungen im Rahmen des sogenannten Pentathlon der Musen, bei dem alle Beiträge “direkt von der Idee des Sports inspiriert” sein sollten.
Bei sieben Olympiaden erhielten Autoren – fast immer Lyriker – Medaillen wie Sprinter, Gewichtheber und Ringer. !928, 1936 und 1948 gab es sogar spezielle Wettbewerbe für epische und lyrische Dichtung.
Baron de Coubertin gewann sogar 1912 die erste Goldmedaille für seine “Ode an den Sport”, die er unter doppeltem Pseudonym Französisch und Deutsch eingereicht hatte.
Aber schon 1912 gab es Kritik wegen der Beschränkung auf das Thema Sport und weil der Amateurstatus bei den Künsten nicht anwendbar sei.
Tatsächlich beteiligten sich die berühmtesten Künstler nicht an den Spielen. 1924 in Paris gewann eben nicht T.S.Eliot oder Jean Cocteau, sondern ein gewisser Géo-Charles (eigentlich Charles Louis Prosper Guyot), den man heute nur in seiner Heimatstadt Grenoble kennt, wo ihn ein kleines Museum als “Pionier der athletischen Kunst” rühmt. Der einzige bedeutende Dichter, der es versuchte, war der Protofaschist Gabriele d’Annunzio, der aber leer ausging. 1932 war der Dramatiker Thornton Wilder Mitglied der Jury in den Spielen von Los Angeles und entschied sich für eine deutsche Ode auf das Bergsteigen.
1936 in Berlin räumten Deutsche und Italiener die Lyrikmedaillen ab.
Erst 1952 wurden die Künste endgültig gestrichen. / TONY PERROTTET, New York Times 1.7.