Plötzlich ist er in aller Munde: Miron Bialoszewski, ein großer Einzelgänger, Chronist des Alltags im Krieg und im Sozialismus, experimentierfreudiger Lyriker und Theatermann, skurrile Existenz. Nicht, dass man ihn völlig vergessen hätte. Doch Bialoszewski wird gerade neu entdeckt. In diesen Wochen überstürzen sich die Ereignisse: Der Krakauer Znak-Verlag hat sein „Geheimes Tagebuch“ veröffentlicht, eine Biografie ist erschienen, in Warschau sollen eine Straße nach ihm benannt und ein von seinem Werk inspiriertes Café eröffnet werden. Noch etwas? Ach ja, am 30. Juli wäre der Autor 90 Jahre alt geworden – wäre er nicht bereits 1983 gestorben.*
Bialoszewski wurde 1922, obgleich Nichtjude, im Wohnviertel der armen Warschauer Juden geboren. Das Menschengewimmel dieses Viertels sollte ihm für immer im Gedächtnis bleiben; die katholische Liturgie und die Psalmen waren für ihn die erste Begegnung mit der Lyrik. Als er 17 war, kamen Krieg und deutsche Besatzung über die Stadt. Der junge Mann nahm, da es keine Hochschulen mehr gab, konspirativ ein Studium auf, begann zu schreiben und veranstaltete in Wohnungen literarisch- musikalische Abende. Er entdeckte seine Homosexualität. Er erlebte den Warschauer Aufstand. Die zwei Monate des Häuserkampfs im Hochsommer sollten ihn ein Leben lang im Traum verfolgen. Viele Jahre später schrieb er eine Art Tagebuch des Aufstands (deutscher Titel: „Nur das, was war“), das ihn berühmt machte.
Bialoszewski brach mit den vor allem im Ostblock herrschenden Konventionen von Kriegs- und Erinnerungsliteratur. Dieses Werk hat nichts von einem Heldenepos. Es ist kein Aufschrei des Protests, enthält keine politische Botschaft oder Anklage. Der Feind, die Wehrmacht und die SS, kommen praktisch nicht vor. „Nur das was war“ ist eine Chronik der Vernichtung einer Stadt, bestehend aus Alltagssprache, Satzfragmenten, Gedankenfetzen, Szenen. Ein großes Lautgedicht, ein Hörbuch, könnte man sagen, in dem das Pfeifen der vom Himmel fallenden Bomben und das Gemurmel der Betenden in den Häuserkellern festgehalten sind. / Gerhard Gnauck, Die Welt
*) Noch etwas? Ach ja, in diesem Jahr ist die erste deutsche Ausgabe einer Auswahl seiner Gedichte erschienen, übersetzt von Dagmara Kraus. Keine Nachricht für Die Welt. Wie man hört, fiel das einer redaktionellen Kürzung zum Opfer. Im Westen nichts Neues. Unser Leser interessiert sich eben eher die Damen auf des Dichters Bettkante als für obskure Gedichte. Lesen Sie mehr über jene in der Welt vom 4.8. Oder kaufen Sie die Gedichte.
Wir Seesterne
Białoszewski, Miron. -
Leipzig : Reinecke & Voß, 2012, 1. Aufl.
Nur das was war
Białoszewski, Miron. -
Frankfurt am Main : Verl. Neue Kritik, 1994