3. “Ich weiß von der ersten Zeile”

Natürlich packe ich das Buch rasch aus, erfreue mich sogleich an der Gestal­tung, wiege es in der Hand, in der das leinen­gebundene Werk trotz seines Umfangs angenehm leicht liegt, und lese unverzüglich die ersten Seiten, die sogleich eine Über­raschung darstellen. Das erste Wort: Bekenntnisse. Und tatsächlich, die spontane Vermutung trifft zu: Hier stehen neue Übertragun­gen der Confessiones des Augusti­nus, dessen eine – eingebrannt wie ein Tattoo – mich lebenslang be­gleitet, seit ich sie von frühester Kindheit an während jeder Messe vom katholischen Dorfpfarrer in Bürvenich gesprochen hörte: Un­ruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir, o Herr. / Inquietum est cor nostrum, donec re­quiescat in te, Domine, unpaginiert und im Wechsel mit ringförmigen Zeichnungen des Autors über ein Dutzend Seiten das voluminöse Buch einleitend – und mit einer Sei­te Boethius am Ende das über 700 Seiten starke, auf vier Säulen – Zeichnung, Übertragung, Blocksatz-Ge­dicht in lyri­scher Prosa, die von vielen Vierzeilern (in nihilum album finden sich 3.650 von die­sen Ameisengedichten) eingerahmt werden, die am Ende von Kapiteln die Herrschaft über eine ganze Seite übernehmen – stehende Werk beschließend. (…)

In einer späten Septembernacht beginne ich die Lektüre. Im Nu spüre ich die Wörter in der Brust pochen (geht das überhaupt?), fühle einen pulsierenden Druck, und ich sage nach einigen Seiten laut vor mich hin: Wahnsinn, das ist der helle Wahn­sinn, und lese weiter und weiter und weiter. Ich weiß von der ersten Zeile (Es ist wahr: ich bin stark, ich habe Lunge und Arm, und ich atme), vom ersten Vierzeiler an: Das ist mein Buch, das ist ein Buch zum Mit-Haut-und-Haar-Verspeisen, zum Lesen, bis mir die Au­gen über­laufen von Wörtern und Bildern und

Halb stemmt eine dritte Figur auf ihren himmel­hin erhobenen Sohlen im Korb eine Maulbeere herauf, die Frucht vom Strauch der Raupe, in deren Puppe sich kein Leib verhüllt: bis er zur unsichtbaren Insassin der Schemen mehr inne­hat als ihren Schatten. Der Kirschkernbeißer, ein Unholdvogel, als hornbeschnäbelter Zerschrot­ter dürrster Samen und durch die heftig ankei­fenden Spuckkerne seines Lockrufs: Zick, zick, zieh! Bringt Ingrimm und Stimmen in Syzygie

/ Theo Breuer, KuNo

  • Oswald Egger, Die ganze Zeit, 741 Seiten, Leinen, Lesebändchen, Suhrkamp, Berlin 2010.
  • Oswald Egger, nihilum albumLieder & Gedichte, 150 Seiten, Hardcover mit Schutzum­schlag, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007.
  • Oswald Egger, Tag und Nacht sind zwei JahreKalendergedichte, 36 Seiten, handfadenge­bundene Broschur, Verlag Ulrich Keicher, Leonberg 2007.


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