Gestern haben wir uns in "Gregorius und der arme Heinrich" vor allem mit dem Beginn der "Gregorius"-Erzählung beschäftigt.
In diesem Zusammenhang haben wir uns zunächst die Eltern der Geschwister angesehen, die sich im Verlauf der Geschichte ineinander verlieben und aus deren Liebschaft Gregorius hervorgeht.
Der Vater ist der König Aquitaniens*, der als gerecht und tugendhaft beschrieben wird. Er kümmert sich in vorbildlicher Weise um sein Land und seine Kinder und erklärt eine Art "Testament", als er sein Ende kommen sieht. Die Mutter der beiden Geschwister stirbt früh.
* Aquitanien spielt auch in anderen historischen Zusammenhängen eine Rolle. Eine bekannte Person ist beispielsweise Eleonore von Aquitanien, die Mutter von Richard Löwenherz und Johann Ohneland. Die Geschichtsschreibung beschreibt sie als sehr gebildete, machtbewusste Frau. Sie liegt übrigens an der Loire begraben.
So, aber nun wieder zu DEREN Kindern. Die beiden bekommen zu Beginn der Erzählung einen Sohn und eine Tochter. NATÜRLICH ist der Sohn der Ältere, NATÜRLICH ist er der Vormund der Tochter. Sowas passt doch auch schön in die Erzählung und ist ganz und gar mittelalter-like. Schön. *hust*
Und wie sollte es anders sein? Schwester und Bruder verlieben sich ineinander. Aber nicht einfach so! Nein! Na, das wäre zu einfach. Stattdessen hat der Teufel (der "Belzebub", der "Satan", der helle hunde", der "helle wirt", ...) seine Finger im Spiel. Er ist es, der dem Bruder die Flausen, mit seiner eigenen Schwester ins Bett zu hopsen, in den Kopf setzt ("suggestio" = "Einflüsterung". Diese wird im Laufe der Zeit zum Wunsch (= "propassio"). Die Tatsache, dass der Teufel in einer mittelalterlichen Erzählung als Person auftaucht, ist selten und gibt dem Werk ab hier etwas legendenhaftes.
Doch was waren die Gründe dafür, dass Bruder und Schwester knäckern? Hartmann von Aue führt gleich vier Begründungen an (die Zahl "vier" steht in der Zahlensymbolik übrigens für das Weltliche, s. a. die vier Himmelsrichtungen, die vier Elemente usw.):
- die Minne (im Mittelalter wird die Minne oft mit der Person der "Frau Minne" personifiziert.)
- die Schönheit der Schwester
- die Überheblichkeit des Teufels
- die kindliche Unerfahrenheit der Schwester (s. a. die Warnungen vor kindlicher Unerfahrenheit vom Beginn der Erzählung)
Die Schwester hingegen ist diejenige, die am Geschehen zunächst keine Schuld trägt, den Bruder sogar noch warnt. Sie hat nun zwei Alternativen...:
- Schweigen (würde bedeuten, dass sie zur Geliebten ihres Bruders wird)
- Schreien (würde bedeuten, dass andere auf die Situation aufmerksam werden und die beiden entdecken. Damit verbunden wäre ein Ehrverlust.)
Heute verbinden wir mit Ehre ein Moralempfinden, welches die Gesellschaft nicht direkt betrifft und sich eher innerlich abspielt.
(s. a. "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" von Heinrich Böll; hier wird die Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Ehre beschrieben.)
So. Weiter in der Erzählung. Das Kind von Bruder und Schwester kommt nun zur Welt und wird in einem Körbchen mit einer Elfenbeintafel (inkl. Geschichte, die das Geschehene beschreibt), Gold und Seide ausgesetzt. Es handelt sich hierbei um die Ausstattung eines Königskindes. Der Vater wird im Verlauf der weiteren Geschehnisse zu einer Nebenfigur. Er geht auf "aventure"... und stirbt irgendwann an gebrochenem Herzen. Die Mutter hingegen übernimmt die Landesherrschaft, übernimmt also im Prinzip die Rolle, die eigentlich ihrem Bruder zugedacht war. Als Königin ist sie eher "nonnenhaft", die Nachkommen, die erwartet werden, bleiben aus und das Volk ist enttäuscht deswegen (s. a. Elisabeth I.). Die Königig stößt alle Bewerber von sich. Einer ist jedoch so überzeugt davon, sie zur Frau nehmen zu wollen, dass er ihr Land überfällt. ... Dies (also der Überfall des Landes aufgrund einer Zurückweisung) wäre eigentlich ein typischer Start für "aventure" (s. a. andere Artusromane). Hier würde eine Burg belagert, ein tapferer Ritter würde die Königin befreien usw. . Der "Gregorius" macht hier jedoch einen Cut und die Handlung schwenkt zum Kind.
Gregorius wird von Fischern gefunden und aus der stürmischen See gerettet. Fischer und Fährleute werden in mittelalterlichen Erzählungen oft als hinterhältig und unehrlich dargestellt. Im "Gregorius" gehören sie zu einem Kloster und haben die Aufgabe, für dieses Fische zu fangen. Ein Geistlicher findet, trotz anfänglicher Verheimlichungsversuche, den kleinen Gregorius und bringt ihn zu einer Pflegefamilie. Dort stellt sich jedoch heraus, dass das Kind "anders" als die anderen ist. Der Abt des Klosters entschließt sich daher dazu, das Kind zu erziehen.
Weiter geht's in der nächsten Woche.
Liebst,
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