Frédéric Baron in "Avec Dostojevski" im TNS Straßburg (c) Franck Beloncle
Ein junger, schlanker, dunkelhaariger Mann kniet am Boden des Bühnenraums des „Studio Kablé“ und verbrennt ein beschriebenes Blatt nach dem anderen. Währenddessen nimmt das Publikum auf der Tribüne Platz und lauscht dem langen, hastig in ein Loch am Boden gesprochenen Monolog des jungen Mannes. Er erzählt aus einem Dostojewski-Stück, wie er ein junges Mädchen verführt hat, in allen Einzelheiten der Vorbereitung, und es wird erkennbar, dass seine Sinne verwirrt sind.
Frédéric Baron ist einer der 14 Schauspielstudenten, die am TNS im letzten Jahr ihrer Ausbildung stehen. „Mit Dostojewski“ wie sich die szenische Collage des Abends nennt, stellt er mit den anderen sein Können vor. Und – eines kann gleich vorweg gesagt werden – alle, die an diesem Abend die Bühne nacheinander bevölkerten – sind mit „Können“ ausgestattet. Chloé Catrin, zum Beispiel, mimt Maria Timoféievna aus den „Dämonen“ zwischen Wahnsinn und Witz so gekonnt, dass man ihr stundenlang zusehen könnte.
Julie Palmier und David Casada in "Avec Dostojevski" im TNS Straßburg (c) Franck Beloncle
Julie Palmier als behinderte Julie aus dem Stück „Die Brüder Karamasov“ wiederum setzt einen ätherischen Gegenpart zur hinkenden Chloé Catrin. Beide Damen haben Glück, denn ausgeprägte Charaktere wie die, die sie zu verkörpern haben, sind immer dankbar zu spielen. Aber Glück allein hätte nicht gereicht. Sie scheuen sich nicht, auch hässlichere Seiten ihrer Protagonistinnen zu zeigen, obwohl sie ja – aufgrund ihrer Jugend, absolut nicht hässlich wirken. Clément Clavel, der die junge Hure Lisa unbedingt von ihrem Beruf abbringen will, agiert deklamierend und überzeugend auf dem Bett, das ihm zuvor Wonnen bereitete, noch überzeugender aber darunter!
Clément Clavel und Claire Rappin in "Avec Dostojevsky" am TNS in Straßburg (c) Franck Beloncle
Sich mit einer Matratze zu bedecken und dennoch verständlich zu akklamieren ist ein Kunststück, das einiger Übung und einer besonderen Stimme bedarf! Jonas Marmy als junger Träumer aus den „Weißen Nächten“ pendelte geschickt zwischen kühler Freundschaft und erhitzter Leidenschaft und zeigt sich am Schluss nicht nur seelisch, sondern sichtbar körperlich angeschlagen ob der Zurückweisung seiner Auserwählten. Er „hängt“ buchstäblich im Seil, wenngleich dieses auch „nur“ eine eiserne Brüstung ist, durch die er sich teilweise hindurchgeschlängelt hat. Die kluge Regie und vor allem die wunderbar zusammengestellten Textpassagen aus fünf verschiedenen Stücken von Dostojewski geben allen Studentinnen und Studenten die Möglichkeit, sich ausgiebig mit langen Monologen dem Publikum zu präsentieren. Und das ist, vor allem, wenn es keine „Aufwärmzeit“ gibt, die normalerweise die Schauspieler und Schauspielerinnen in diesen Stücken haben, nicht ganz einfach.
Mit Nachdruck kann festgestellt werden, dass die Ausbildung am TNS in Straßburg offenkundig eine Hervorragende ist. Valentine Alaqui als Nastenka, Maelle Poésy als Liza, Pauline Ringeade als Daria, David Casada als Alioscha, Nathalie Bourg als Aglaia, Guillaume Fafiotte als Mischkin, Lucas Partensky als Rogojine und Claire Rappin – sie alle müssen namentlich erwähnt werden, denn es ist keine und keiner unter ihnen, der nicht mit einer überzeugenden Bühnenpräsenz ausgestattet gewesen wäre.
Ganz anders als in den Inszenierungen von Margarita Mladenova – die am TNS einige Tage zuvor zwei Strindberg-Stücke zeigte und die gemeinsam mit Ivan Dobchev vom Theater Sfumato aus Bulgarien bei dieser Inszenierung selbst Hand anlegte, ist dieser Abend gestaltet. Keine kühle Distanz herrscht zwischen den Schauspielern untereinander, sondern alle Emotionen, die in den Figuren angelegt sind, dürfen ausgelebt und wiedergegeben werden. Das Grundthema der Liebe in mannigfachen Schattierungen wird abgearbeitet und – steht es doch einer jungen Truppe naturgegeben persönlich nahe – offenkundig bestens nachempfunden. Genauso intelligent wie die Textcollage ist das Bühnenbild gestaltet, das mit wenigen mobilen Einheiten und zwei Ebenen eine Spielzeit ohne Umbau von zweieinhalb Stunden ermöglicht. Ob der Ausblick auf eine regennasse Straße oder ein Bordellbett – ob die steile Metalltreppe, die in die obere Ebene auf einen langen Gang führt, auf dem sich trefflich flehen und streiten, beschimpfen und beschwören lässt – das Geschehen in dem Bühnenbild ereignet sich logisch, ästhetisch und abwechslungsreich. Ein großes Lob an Claire Schirck.
Dostojewski ist keine leichte Kost. Aufführungen von Schauspielabsolventen sind oftmals bemüht, aber mühsam. Dieser Abend am TNS jedoch zeigte, dass es Möglichkeiten gibt, beide Hemmnisse bravourös zu umschiffen. Eine Produktion, die zurecht auch schon im Jänner in Sofia in Bulgarien gezeigt wurde und deren 2,5 Stunden wie im Flug vergingen.
Verfasser: Michaela Preiner
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