25. April, Mutter, Prollberg, Gedichte, 5.52 Uhr

Prollberg, einst mit merkwürdigen Gedichten zu einer regionalen Größe gewachsen, der er noch heute nachhing, und die sich im absurden Kauf von ausladenden Schuhe und Jacken ihren Weg in die ihn längst nicht mehr wahrnehmende Öffentlichkeit suchte, begrüßte uns mit seinem altbekannten Hängemattenlächeln. Komm schon, schien es zu flüstern, steig in mich und mach es dir in mir bequem, ich werde dich einlullen und wegdämmern lassen.
Deine Mutter ist noch im OP, sagte er und griff nach einer Flasche Wasser, die er bald hierhin, bald dorthin stellte, als spiele er ein nur ihm bekanntes Brettspiel auf dem Tisch, mit einer Figur, die nicht gewinnen, nicht verlieren konnte.
Ich dachte an seine Gedichte, die kurz und voller Staub waren, den es von Anzügen zu entfernen galt, von Knöpfen, die golden in der Nachmittagssonne glänzten. Seine Lyrik verströmte den Duft eines Militärplatzes, der von Geschäftsleuten genutzt, Geld antreten ließ, um es anschließend durch Neologismen springen zu lassen, die in Brand gesetzt, sich nach verbrannter menschlicher Haut sehnten. Es ging um den ewigen Kampf des Kapitals um Selbstbehauptung, um die Herrschaft und den Endsieg der Finanzmärkte.
Wir sprachen kaum, saßen stumm nebeneinander, während sich die Aufzugtüren öffneten und schlossen. Kranke und Besucher wurden in den Flur gespuckt, die sich ängstlich umblickten, als wären sie plötzlich in einem Albtraum Franz Kafkas erwacht, ohne zu wissen, wer dieser Franz Kafka überhaupt war, was ihre Verunsicherung noch steigerte.
Dann endlich, später, viel später, durften wir zu Mutter, die einen guten Eindruck machte, hellwach und bei Bewusstsein, das unaufhörlich ein Lächeln nach dem anderen in ihr Gesicht kippte. Ihr Gesicht schien ein Abladeplatz für das Glück dieser Welt geworden zu sein.
Ich streichelte ihr über die Wange, Seraphe drückte sie sanft und Prollberg ließ ein Glucksen hören, dem eines seiner rasch heruntergerasselten Gedichte über eine Registrierkasse folgte. Wir sahen ihn erstaunt an, er hob die Schultern, wir vermuteten es zumindest, denn er verschwand nahezu in seiner grauen Anzugjacke, die ihm nicht nur Heimat war, sondern auch Heimatverlust, eine Erinnerung an seine einst von Haus und Hof vertriebenen Eltern.
Mutter zeigte ihren in Gips verpackten Arm her, der nun mit einem neuen, künstlichen Knochen ausgestattet sei, wie sie betonte, und ich sah sie für Sekunden als den neuen Menschen, der sich bereits am Lebenshorizont abzeichnete; Wesen, die halb Kunst, halb Natur, sich elegant wie Vögel über den Himmel bewegten und gegenseitig jagten, ausgestattet mit Düsenantrieben, die sie höher und höher streben ließen, bis sie schließlich in der Sonne verglühten.
Ich musterte Prollbergs Gesicht, der sich über Mutter beugte und ihr, mein Spatz, auf den Mund hauchte.
Am Abend, ich war mir gewiss, würde er wieder über seinen letzten Gedichten hocken, an seinem unvollendeten Roman, der den Titel “Die Kunden” trug und von dem er mir bisher nur einmal, in einer von Wein geschwächten Sekunde erzählt hatte.
Wir verabschiedeten uns, verwiesen auf den morgigen Tag, sagten zu Mutter, sie solle, wenn möglich ruhen, schlafen, und als wir die Tür hinter uns ins Schloss zogen, konnte ich noch Prollberg hören, der sich räusperte und dann sagte, du erlaubst sicherlich, ein Gedicht, nur ein kleines Gedicht …



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