Die Vergangenheit hat Begriffe und Namen: russischer Futurismus, Saum’-Sprache; David Burljuk, Welimir Chlebnikow, Alexej Krutschonych, Wladimir Majakowski und – für die jüngste Vergangenheit – Carlfriedrich Claus, den Scherstjanoi 1982 kennenlernte. Ohne die Freundschaft mit Scherstjanoi wäre Claus’ künstlerische Rezeption des russischen (Kubo-)Futurismus auf der (fremd-)sprachlichen Ebene sicher nicht so komplex verlaufen. Auch an Übersetzungsprojekten haben die beiden Künstler zusammengearbeitet. So hat Scherstjanoi im Auftrag von Rudolf Mayer für den Verlag der Kunst (Dresden) Rohübersetzungen der Deklaration der saumnischen Sprache von Alexej Krutschonych angefertigt, die Carlfriedrich Claus seiner Nachdichtung zugrunde legte. Die erstmalig ins Deutsche übersetzte Deklaration wurde 1982 im Katalog figura 3 auf der IBA Leipzig veröffentlicht. (…)
Valeri Scherstjanoi ist der letzte Futurist. Er ist vom Stamme der Lautpoeten mittlerweile einer der Dienstältesten und sicherlich einer der ganz Großen. Er ist kein Stimmartist im Sinne eines stimmlichen Exorzismus, wie ihn Carlfriedrich Claus, Bob Cobbing, François Dufrêne oder Gil Joseph Wolman betrieben haben oder Jaap Blonk betreibt. Seine »extended vocal techniques« schlagen keine Wurzeln in der Neuen Musik. Valeri Scherstjanoi würde nie behaupten, singen zu können wie Diamanda Galas, Meredith Monk oder David Moss. Die Singstimme wäre mit dem Granulat, der Rauheit der lautpoetischen Stimme geradezu unvereinbar. Was Scherstjanois Mund- und Atemwerk fabriziert, besitzt geistigen Tiefgang. Das in die Schrift Eingefaltete, das Überkommene und von ihm erfindungsreich Angereicherte faltet Scherstjanois Stimme wieder aus. In seinem Atem ist die Schrift gegenwärtig – eine Schrift, deren Strich quer durch die Jahrhunderte geht. Auch die »Schrift von keinerlei Sprache«, wie es bei Henri Michaux heißt.
Mehr
Michael Lentz, Nachwort zu: Valeri Scherstjanoi: Mein Futurismus. Matthes & Seitz 2011
Lyrikwiki Labor über den figura-Katalog