SZ: Sie haben einmal geschrieben, Sie hätten vier Lehrmeister im Leben gehabt, den Hunger, die Obdachlosigkeit, die Schande und das Gefängnis. Was haben die vier Sie gelehrt?
Liao Yiwu: Nummer eins ist der Hunger, in den wurde ich 1958 hineingeboren. Mao hatte kurz vor meiner Geburt den ‘Großen Sprung nach vorn’ verordnet, an dem 40 Millionen Menschen sterben sollten. Das ganze Land litt unvorstellbaren Hunger, es gibt in vielen Dörfern grässliche Kannibalismusgeschichten aus dieser Zeit. Ich wäre damals fast gestorben und habe mich dadurch sehr verzögert entwickelt. Richtig laufen konnte ich erst im Alter von fünf Jahren. Eine meiner ersten Erinnerungen sind diese schwankenden Schritte. Wie auf einem Schiff. Mir war dauernd schwindlig, ich konnte gar nicht gerade ausgehen.
Aber was hat der Hunger Sie gelehrt?
Mein Vater unterrichtete mich anfangs, statt eines Lehrers. Er setzte mich oft auf unseren höchsten Schrank, auf dem ich Gedichte auswendig lernen musste. Er sagte, die Gedichte müssten uns jetzt ernähren, aber er wollte mich so auch dazu zwingen, trotz des Hungers aufrecht zu sitzen.
/ Liao Yiwu im Interview mit Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung 28.8. (darin auch, wie westliche Sinologen China zuarbeiten)