Meine erste Begegnung mit den Gedichten Anne Sextons löste damals einen inneren Erdrutsch aus, wie das selten, bei der Entdeckung einer Dichtung oder anderer Ausdrucksformen der Kunst geschieht. Sextons Texte hatten eine erschreckende Offenheit, Nacktheit. Ihre sprachliche Bilderflut war wie eine übersüße, starke, oder zu scharfe Kost. Etwas Hochprozentiges. Ich las und spürte: hier ging es ans Eingemachte.
Sexton war, wie Sylvia Plath, Vertreterin der Confessional Poetry; einer Poesieströmung, die im Amerika der 50′er / 60′er Jahre durch ihren intimen Charakter, der eng an die Biographie der DichterInnen gekoppelt war, Aufsehen erregte. Sexton war in erster Linie aus Selbstrettungsgründen Dichterin geworden. Ihre Texte changieren zwischen zerbrechlicher Zartheit und unerbittlicher Sezierung. Bildpralle Verse bohren sich mit psychoanalytisch forschendem Blick in Intimsphären vor der Kulisse des gesellschaftspolitischen Hintergrundes. Dem amerikanisch bürgerlichen Familienbild mit seinen starren Regeln und Beschränkungen, vermochte Sexton nie zu entsprechen. / Kerstin Becker, fixpoetry
Anne Sexton. Verwandlungen. Hrsg. u. Vorw. v. Elisabeth Bronfen. Aus d. Amerikan. v. Silvia Morawetz. S.Fischer, Frankfurt am Main 1995