22. César Vallejo

Von Lnpoe

Julietta Fix fragte an, ob ich für ein paar Tage das Gedicht des Tages auswählen wollte. Ich wollte sofort und fing an zu kramen. Dutzende Namen die unbedingt dabei sein sollten – wohl keiner, fast keiner blieb übrig.

Ich entschied mich letztlich hauptsächlich für lang zurückliegende Leseerfahrungen. Poesiealbum, Reclam Leipzig, die Weiße Lyrikreihe…

César Vallejo las ich zuerst in den 70er Jahren: in der Weißen Lyrikreihe von Volk und Welt (1971) und im Poesiealbum 140 von 1979. Lange hatte ich die nicht mehr in der Hand. Erinnerungen!

Heute hat niemand nach mir gefragt, nichts/ hat man mir abverlangt an diesem Nachmittag (…) Heute ist niemand gekommen, und ich bin so wenig / gestorben an diesem Nachmittag!// Wenn es regnete heute nacht, ich zöge mich/ um tausend Jahre zurück. // Oder vielmehr um hundert./ Als wäre gar nichts geschehen, gäbe ich vor:/ ich käme erst, ich wäre noch unterwegs. (Agape)

Ich lese dies wieder:

Ein Mann geht vorbei

Ein Mann geht vorbei mit einem Brot auf der Schulter. 
Wie soll ich da über mein Double schreiben?

Einer setzt sich hin, kratzt sich, fängt unterm Arm eine Laus, bringt sie um.
Was soll das Gerede über die Psychoanalyse ?

Ein andrer ist mit einem Stock in meine Brust eingedrungen. 
Soll ich mich vielleicht mit dem Arzt über Sokrates unterhalten?

Ein Holzbein kommt vorbei mit einem Kind an der Hand. 
Was hilft es da, André Breton zu lesen?

Ein andrer zittert vor Kälte, hustet, spuckt Blut. 
Ist da ein Hinweis auf das Ich an sich angebracht?

Noch einer sucht im Dreck nach Kartoffelschalen und Knochen. 
Wie kann man da über das Unendliche schreiben?

Ein Maurer fällt vom Gerüst und hat seine letzte Semmel gegessen.
Und die Erneuerung der Tropik sowie der Metapher?

Ein Händler betrügt den Käufer um ein Gramm Gewicht. 
Was soll uns das Geschwätz über die vierte Dimension?

Ein Bankier fälscht seine Bilanz.
Und da gibt es Gesichter, die weinen im Schauspielhaus?

Ein Paria schläft mit dem Fuß auf dem Rücken. 
Sollen wir miteinander über Picasso reden?

Irgend jemand geht schluchzend zu einem Begräbnis. 
Wie ist es möglich, gewählt zu werden in die Akademie?

Einer putzt sein Gewehr in der Küche.
Welchen Wert hat es da, vom Jenseits zu sprechen?

Einer geht vorbei und rechnet mit seinen Fingern.
Ist es möglich, das Nicht-Ich zu erwähnen, ohne zu schreien?

(Deutsch von Hans Magnus Enzensberger)

1938 ist Vallejo (“Ich werde sterben in Paris, mit Wolkenbrüchen”) in Paris gestorben – an einer unbekannten Krankheit und an vielerlei Hunger.

Deutsche Ausgaben

  • César Vallejo: Wolfram für die Yankees : Roman .Aus d. Span. übers. von Lieselotte Kolanoske. Berlin : Aufbau-Verl. 1961.
  • César Vallejo: Gedichte. Spanisch und deutsch. Übertragung und Nachwort von Hans Magnus Enzensberger, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1963. (Bibliothek Suhrkamp 110)
  • César Vallejo: Funken wie Weizenkörner : Gedichte. Übertragen von Erich Arendt, Hans Magnus Enzensberger, Fritz Rudolf Fries. Berlin : Verl. Volk und Welt, 1971 (Weiße Lyrikreihe)
  • Poesiealbum 140. César Vallejo.Berlin, Verlag Neues Leben, 1979. Auswahl des Heftes: Richard Pietraß, übertragen von Erich Arendt, Hans Magnus Enzensberger und Fritz Rudolf Fries.
  • César Vallejo: Werke I–IV. Gedichte (spanisch / deutsch), übersetzt von Curt Meyer-Clason, hrsg., mit Anmerkungen und einem Nachwort von Alberto Perez-Amador, zus. 4 Abb., zus. 812 S., geb., teils m. Lesebändchen, 2010. ISBN 978-3-89086-809-7 ISBN 3890868096. € 99,-Werke Bd. 1: Spanien, nimm diesen Kelch von mir / España, aparta de mí este cáliz Gedichte (spanisch/deutsch) 1998
    Werke Bd. 2: Menschliche Gedichte / Poemas humanos Gedichte (spanisch/deutsch) 1998
    Werke Bd. 3: Trilce Gedichte (spanisch/deutsch) 1998
    Werke Bd. 4: Die schwarzen Boten / Los heraldos negros Gedichte (spanisch/deutsch) 2000
  • Pariser Gedichte (aus dem Nachlaß) des César Vallejo / erstmals ins Dt. übertr. von Thomas Schwab. Mit einem Nachw. von Karsten Garscha. Frankfurt am Main : Dielmann 1998, 32. S.