Es scheinen gute Zeiten für Lyrik zu sein. Zumindest kann man allenthalben von einer blühenden jungen Szene lesen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung widmete der „Boombranche“ kürzlich einen großen Artikel, in dem von der Lebendigkeit und Vielseitigkeit der zeitgenössischen lyrischen Stimmen geschwärmt wurde, ohne dabei die ökonomische Belanglosigkeit des Genres im Literaturbetrieb außer Acht zu lassen. Auch im Börsenblatt wurde begeistert von der „Sturm- und Drang-Phase“ der deutschsprachigen Dichtung berichtet, wie Michael Braun und Hans Thill die momentane Aufbruchsstimmung in ihrer Anthologie Lied aus reinem Nichts treffend benannt haben. …
Zu ihnen gehört der 1974 in Berlin geborene Alexander Gumz, ein Autor, der seit Jahren in verschiedensten Zusammenhängen mitmischt, ob als Veranstalter oder Herausgeber, auch immer wieder mit eigenen Texten in Anthologien vertreten war, aber erst in diesem Frühjahr seinen ersten eigenständigen Gedichtband veröffentlicht hat. ausrücken mit modellen ist in Daniela Seels kookbooks Verlag erschienen und enthält 60 in sieben Kapitel unterteilte Gedichte. …
Oft gelangt er mit einer Strophe an jenen Punkt, fängt jene Sekunde ein, in der sich Aktualität verwandelt ins Nicht-mehr-Fassbare, wo eine Kehrseite des Wahrnehmbaren aufscheint und Zeitlosigkeit entstehen kann: „in blendender bewegung eingefroren: ein loop der eigenen erfolge, der spiegelbilder, die wir nicht gewesen sind.“ Die einzelnen Strophen bestehen meist nur aus zwei Zeilen, und jede einzelne trägt den Kern des ganzen Gedichts oft schon in sich. In jedem in seiner Nüchternheit oft geheimnisvoll wirkenden Bilder ist das Gesamte aufgehoben, und das kommt einem nie wie ein forcierter Akt der Zersplitterung vor, sondern mehr wie eine natürliche Konzentration auf das Wesen des Gedichts. „unsere sorgen sind bekloppte interieurs“, heißt es in Kühle Entwicklungen, und viel genauer lässt sich die Befindlichkeit der heute 30- bis 40-Jährigen kaum fassen. …
Wie sich das anfühlt, in eine Zukunft hineinzuwachsen, die aus verlorenen Sehnsüchten besteht, und in einer Gegenwart zu leben, in der man Wünsche erst einmal formulieren können müsste, davon weiß auch Katharina Schultens zu erzählen. Die 1980 geborene Lyrikerin legt mit gierstabil bereits ihren zweiten Gedichtband vor – nach Aufbrüche (2004) ein radikaler Neuanfang. Schon der Titel deutet auf eines der fundamentalen Motive hin: Gierstabilität bezeichnet den Umstand, in dem sich ein Fahrzeug ohne weitere Einflussnahme geradeaus bewegt, zumindest tendenziell. / Ulrich Rüdenauer, Die Zeit