21. Glossen und Speicher

Milautzcki und kein Ende. roughblog dokumentiert einen Kommentar Milautzckis auf fixpoetry.com zu einem Gedicht von Konstantin Ames. Die Einleitung bei roughblog:

Frank Milautzcki hat auf fixpoetry einen Kommentar zu einem Gedicht von Konstantin Ames veröffentlicht, der selber zumindest an Ort und Stelle nicht wieder kommentiert werden kann. Wir wiederholen hier seinen Kommentar und laden zu weiteren Kommentaren ein

In der Tat bedarf es der Amtshilfe, da fixpoetry offenbar die Kommentarfunktion abgeschaltet hat. (Die Anonymität des World Wide Web begünstigt Schmähworte, jeder im Netz Veröffentlichende kennt das Problem. Abschalten ist aber wohl keine Lösung, es sei denn, man will keine Widerworte zulassen.)

Die verdienstvolle Literaturseite von Julietta Fix ist ein Füllhorn mit vielen Façetten. [Autsch, denke ich, schon lieferst du M. eine Steilvorlage. Bei Molière – Achtung, Bildungsprotz – gibt es eine Figur namens "Monsieur Jourdain, bourgeois". Diesem wird einmal erklärt, was "Prosa" ist, nämlich freiweg so zu sprechen wie Monsieur Jourdain, und er staunt über sich selbst, daß er seit über 40 Jahren Prosa spricht, ohne es zu wissen! Das kann ich auch! Ohne es zu wollen, habe ich 6 f-Anlaute in einen einzigen Satz gebaut, ich weiß sogar das Fremdwort, "Alliteration", was sagen Sie dazu, Monsieur Jourdain? Und obendrein mit einem kleinen "ç" meine Fremdsprachenkenntnisse angedeutet!]

Milautzckis Text (und mit Einschränkung Ames’, die Einschränkung sind 2 typographische Abweichungen auf den 4 letzten Zeilen) wird so angekündigt:

[hintun]

 Autor:

Konstantin Ames
Besprechung:
Frank Milautzcki

Folgt man dem Link, findet sich eine weitere Genrebezeichnung: „Interpretation“. Es ist aber weder das eine noch das andere. Milautzckis erster Satz zeigt die Methode, die gleiche, der er sich auch in verschiedenen hingeworfenen Kommentaren in der Lyrikzeitung bediente: eine starke Behauptung aussprechen und dann so tun, als wäre etwas bewiesen. „Besprechung“, „Interpretation“ oder auch „Kritik“, „Analyse“, da müßte etwas hinzukommen, das er wegläßt. Man ahnt schnell, warum. Milautzcki ist belesen, er kann gut schreiben und er hat sich offenbar zu einem Feldzug gegen mißliebige Schreibweisen entschlossen. Was liegt näher, als seine Belesenheit und Formulierungskunst in den Dienst der Sache zu stellen. „Glosse“ paßt vielleicht am ehesten. Im Netz finde ich diese Definition:

Glosse


Wie der Kommentar ist die Glosse eine meinungsäußernde journalistische Darstellungsform. Obwohl sie oft als leicht lesbarer Text daherkommt, muß ihr Autor eine große Sachkenntnis über den zu glossierenden Gegenstand besitzen und über ein sehr gutes Ausdrucksvermögen verfügen. Denn in erster Linie unterscheidet sich die Glosse vom Kommentar nicht im Thema, sondern in ihrer sprachlichen Form. Hier wird polemisch oder satirisch eine (meist) aktuelle Nachricht des Tages aufs Korn genommen. Die Glosse zeichnet sich durch Eleganz in der Formulierung, eine schlagende Beweisführung und überraschende Pointen aus. Eines der beliebtesten Stilmittel von Glossenschreibern ist die Ironie, die freilich auch zur Quelle von Mißverständnissen werden kann. Als beispielhafte Glosse gilt in der bundesdeutschen Zeitungslandschaft im allgemeinen das Streiflicht der Süddeutschen Zeitung.

© SR

„Meinungsäußernd“, „gutes Ausdrucksvermögen“, „leicht lesbar“, „schlagende Beweisführung“, „Ironie“, alles da. Aber wie steht es mit „Sachkenntnis“, mit „Beweisführung“? Der Glossenschreiber nutzt sein Ausdrucksvermögen, um seinen Gegenstand tödlich zu treffen. Der gewandte Ausdruck ist der Schlüssel zum Ganzen: er suggeriert überlegenes Wissen und Können des Schreibers. Milautzcki schreibt:

Zwei Minuten habe ich gebraucht, um in der Bastelstube von Konstantin Ames mitzumachen und einen Text zu erzeugen, der aus seinem hervorgeht und offensichtlich nicht den allerschlechtesten.

„Offensichtlich nicht den allerschlechtesten“. In der Mathematik sagt man am Schluß q.e.d., was zu beweisen war. In Milautzckis Glosse wird am Anfang gesagt, das ist so kraft meines überlegenen Urteils, und das nachgereichte „offensichtlich“ bringt den eventuell noch zweifelnden Leser zum Schweigen, wer will schon als Blinder dastehen. Ist es offensichtlich? Ich bin sicher, daß man solche Texte verfassen kann, das ist ja „offensichtlich“, man kann sie auch selber drucken oder vielleicht jemanden finden, der sie publiziert, aber ich bin auch ziemlich sicher, nach annähernd 20jähriger Beschäftigung mit Engeler-Erzeugnissen, daß dieser Verleger, der in seiner Zeitschrift und seinem Verlag durchaus nicht nur das publizierte, was den Beifall des Publikums heischende Kritiker gern „experimentell“ nennen, (man muß nur lesen), daß Engeler dankend ablehnen würde. Nicht alles was „experimentell“ aussieht, ist auch „spannend“. Meine „Sicherheit“ steht oft in Anführungszeichen, zu genau weiß ich, daß auch aufmerksame Leser etwas übersehen und in falsche Hälse kriegen können, aber eine gewisse Sicherheit erwirbt man doch in einem langen Leseleben. „Spannung“, nicht unbedingt im Krimisinn, ist vielleicht der richtige Ansatz. Nicht immer wird man nach 2 Minuten sicher sein, ob Weiterlesen lohnt, aber doch oft. Wenn was rüberkommt, liest man weiter. (Als Kritiker, als Juror muß man auch weiterlesen, wenn nichts rüberkommt, wie es mir bei Lehnert ging, wo ich nach wenigen Seiten den Eindruck hatte, es mit pathetisch-rhetorischem Schwung ohne viel Inhalt zu tun zu haben. Anderen geht es anders: selbstverständlich!).

Will sagen, Texte wie die von Ames lese ich nicht, weil sie von Michael Braun gelobt werden, sondern weil sie für mich den „suspense“ haben. Texte wie den von Milautzcki gebastelten Vierzeiler würde ich skeptischer lesen und eher weglegen.

„Offensichtlich“ ist also „offensichtlich“ nicht das richtige Wort in puncto Inhalt: es steht ja auch nur da wegen der Rhetorik. Milautzcki weiter:

Mit etwas poetologischem Basispomp kann man das, was mir hier ein paar Momente Spaß gemacht hat, auch zur großen Kunst erheben. Da sind Reime (die bei ihm versteckt sind – denn das Verstecken ist „die Kunst“), Assoziationen, die bei ihm da „hinta“ sind – all das kann man hervorholen, oder eben auch nicht.

„Poetologischem Basispomp“: der Glossenverfasser will nicht abwägen, sondern töten. Ein Leser, der Argumente herbeisuchen will, wird mit dem Wort „Pomp“, verschärft durch den Zusatz „Basis“, zum Schweigen gebracht. Milautzcki nennt 2 poetologische Basismerkmale: versteckte Reime [er teilt den nächsten tödlichen Streich aus: das Verstecken ist „die Kunst“] und da“hinta“ lauernde Assoziationen. Probieren Sie es ruhig, es muß nicht mit Ames sein, Rilke, Benn oder Goethe gehen auch: ein paar versteckte Reime, ein paar ebenso versteckte Assoziationen, meinetwegen nehmen Sie als Drittes auch versteckte Zitate, aus Literatur, Politik oder Fernsehen, bauen Sie so versteckt wie möglich „ich abe fertich“ ein oder „da werde Sir geholfen“, verfremden sies noch weiter in Lautung, Orthografie, Grammatik, das kann Spaß machen – aber Engeler wirds nicht drucken, Michael Braun sicher nicht loben.

Milautzcki weiter:

Je nachdem, ob man mit dem Kopf anklopft und der Sesam öffnet sich. „uuildu noh“ schreibt er dann. Ich gestehe: Ich will nicht. Denn danach fragt der Satz: er stammt aus einem mittelalterlichen Gedicht-Bruchstück namens „Hirsch und Hinde“, es befindet sich in einer alten Handschrift in der Bibliotheque Royale in Brüssel – jedenfalls kann man das im Reallexikon der germanistischen Altertumskunde so nachlesen. Im Ernst: entlegenere Quellen kann man in einem Gedicht nicht zitieren. Unverstandener kann etwas nicht bleiben. Ames sammelt das, je rätselhafter, umso mehr Punkte für den Kandidaten bei der Überzeugungsarbeit ein echter Literat zu sein.

Ah, jetzt kommt das Bildungsprotz-Argument. Jedenfalls „kann man das im Reallexikon der germanistischen Altertumskunde so nachlesen“, aha. (Na immerhin.) Je rätselhafter, je entlegeneren Orts hergeholt, desto Kunst!

Aber es geht auch einfacher, der Glossist argumentiert erst einmal gern damit, um sich dann doch das Argument selbst aus der Hand zu schlagen:

Aber von alleine ist er nicht drauf gekommen. Sein Gedicht datiert vom 11.07.2009 und genau einen Monat zuvor schickte Gregor Koall seine Lyrikmail Nr. 1996 (in der „Szene“ von allen abonniert), nämlich exakt am 10.06.2009, durch die Lande, darin präsentierte  Dr. Martin Schuhmann von der Universität Frankfurt/Main aus seiner Reihe „Texte aus mittelhochdeutscher und althochdeutscher Zeit in Original und Übersetzung“ folgende althochdeutsche anonyme Randnotiz namens „Hirsch und Hinde“

„In der Szene von allen abonniert“ ist der Schlüssel. Er mußte „nicht einmal“ das Reallexikon aufsuchen, er bekams ja frei Haus. Wie alle potentiellen Leser! Gregor Koalls Lyrikmail hat eine fünfstellige Abonentenzahl. Ames’ angeblich weit hergeholtes Bildungszitat ist auch seinen potentiellen Lesern ins Postfach geschickt worden. Der Kunstwert sinkt beträchtlich, folgt man Milautzckis Argumentation.

Schule und Wissenschaft reden uns ja gern ein, das Verstehen von Kunstwerken setze das Erkennen aller darin „versteckten“ Zitate voraus. Die Rede hat verhängnisvolle Wirkung. Wir sehen ein, daß die hohe Kunst nichts für uns ist und überlassen sie den Fachidioten, die dicke Bücher drüber schreiben, mit denen sie die Originale verdecken ad infinitum. Verantwortungsbewußte „Lehrer“ versuchen zum eigenen Lesen zu verführen. Ein probates Mittel ist das Bekanntmachen mit „entlegenen“ Kunstwerken aus aller Damen und Herren Ländern und Zeiten. Ein provenzalisches Gedicht über nichts, ein althochdeutsches Fragment, ein Mayagesang, ein rätselhafter Celanspruch. Wer vieles vorgesetzt bekommt, an dem geht manches vorbei, aber vielleicht nützt ihm oder ihr der Vorrat doch einmal? „Sprachspeicher“ nannte das Kling. Wir brauchen nicht weniger sondern mehr Sprachspeicher. Vielfältige sind besser als einfältige. Auch Ames’ sprachwütige und sprachlustige ernste Spiele sind Sprachspeicher, ich zweifle nicht, daß sie in dem und jenen anklingen können und wer weiß besseres stiften als vergnatzte Kommentare oder inhaltsfreie Glossen. Auch das Fixative ist ein solcher Sprachspeicher. (Die Glosse will töten, der Speicher bereitstellen).

(Übrigens Ames oder seine Leser mußten nicht auf die Lyrikmail warten oder im altgermanistischen Seminar sitzen, um das Fragment von der „Hinte“ zu finden. Karl Wolfskehl und Friedrich von der Leyen rückten es vor beinah 100 Jahren in eine Anthologie, aus der es auch in ein Inseltaschenbuch kam: hohe Auflage garantiert. Es steht also in vielen Bücherregalen und liegt wohl auch mal in Grabbelkisten. Es fand auch vor 10 oder 11 Jahren in meine Anthologie, öffentlich im Netz. Im November 2009 rückte ich es neu hier ein:

58. Meine Anthologie 4: Hinde

Und zitiere es gern mal in neugermanistischen Seminaren. Das tue ich auch mit Amestexten. Vielleicht findet sich ja jemand, den es trifft.

Hier findet man den korrekten Text zum Lesen und Anhören



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