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Von Feder

Als ich mich vor zwei Jahren von der Berliner Kulturszene verabschiedete, um in ein winziges Dorf in West Yorkshire abzutauchen, dachte ich, dass sich das mit dem Schreiben zwecks mangelndem Input über kurz oder lang wohl erledigen würde.  Aber das Gegenteil war der Fall. Hier oben fern ab des Großstadtrummels bin ich von so viel Kreativität umgeben, dass ich gar nicht weiß wie mir geschieht. Bis gestern dachte ich außerdem, dass meine nur angelernten Englischkenntnisse mich wohl kaum dazu berechtigen, einen Creative Writing Workshop zu besuchen, um angehende englische Schriftssteller mit halbfertig übersetzten Wort-Stümpereien zu belästigen. Ich befand mich tatsächlich in einem Dilemma. Meine poetische Ader kann ich nur in meiner deutschen Muttersprache tatsächlich voll entfalten, doch dafür lebe ich jetzt im falschen Land, denn die Gebrauchssprache in England ist sinnvollerweise nicht Deutsch sondern Englisch. Ich schreibe also in einer Sprache, die mein unmittelbares Umfeld nicht versteht und fühle mich im Englischen literarisch auf Grundschulniveau.

Google Translator hat sich in diesen schwierigen Zeiten auch nicht gerade als ein wortmächtiger Verbündeter erwiesen. Immer wenn ich meinen Engländer auf diese Weise an meinen Schreibkünsten teilhaben lassen will, blicken mich zwei verständnislos müde Augen an. „Ich ahne, was du sagen willst, aber so ganz folgen kann ich dir nicht“, eröffnet sich mir jedes Mal dieselbe schmerzhafte Wahrheit.  Oh je, würde ich in diesem Land je einen Fuß auf literarischen Boden bekommen? Nun, wenn ich schon nicht selbst aktiv mitwirken kann, vielleicht kann ich auf andere Weise irgendwie teilhaben am künstlerischen Leben, mir Inspiration und Anreize holen und eines Tages vielleicht doch mal etwas Gescheites zum Besten geben?

Und prompt in meiner größten Grübelei blinkt eine Nachricht auf meinem Smartphone auf und meine jamaicanische Freundin Lillallee lädt mich zu einem poetischen Open Mic im Queenies Coffee Shop im Herzen Huddersfields ein. Ein Open was? Nun, kurz und knapp zusammengefasst: Ein Open Mic steht für einen Abend des „offenen Mikrophons“. Das bedeutet im Klartext, dass jeder, der ein künstlerisches Werk, zum Beispiel ein Gedicht, einen Song, einen Sketch oder was auch immer gern öffentlich vortragen möchte, herzlich dazu eingeladen ist. Diese Art Selbstvermarktungsveranstaltung für Hobbykünstler findet oft in Cafés oder Buchhandlungen statt, bleibt also meist in einem eher kleinen, vertraulichen Rahmen. Viele von euch werden den Begriff Poetry Slam kennen. Das funktioniert ganz ähnlich. Es gibt eine begrenzte Redezeit von circa zehn Minuten, wobei sämtliche anstößige und fremdenfeindliche Äußerungen natürlich tabu sind. Doch beim Open Mic gibt es im Gegensatz zum Slam keine Jury und keinerlei Bewertungen, außer die Applausstärke vom Publikum vielleicht. Die Künstler treten also nicht gegeneinander an, es ist kein Wettbewerb, sondern eher ein mutiger Versuch, zu erfahren wie das eigene Werk so ankommt da draußen.

Am gestrigen Abend versammelte sich hinterm Mikrophon eine bunte Truppe aus älteren und jüngeren Hobby-Dichtern sowie drei professionellen Künstlern. Dabei fiel mir auf, dass bei einer solchen Performance das Geheimnis gar nicht darin besteht, einen perfekten Auftritt hinzulegen, sondern dem Publikum möglichst unaffektiert, ehrlich und persönlich entgegenzutreten. Blanke Professionalität und bis ins Detail durchgeplante Perfektion stehen dabei eher zurück hinter sympathischen, menschlichen Regungen wie Versprechern, zittrigen Stimmen und emotionalen Regungen. Obwohl ich gar kein großer Gedichtsfanatiker bin und mir meistens aus Versen nicht allzu viel mache, war ich mittendrin bisweilen zu Tränen gerührt. Und zwar nicht so sehr, weil mich die technisch-künstlerische Umsetzung so fasziniert hätte, sondern weil diese Menschen sich trauten, ihre ganz privaten Gedanken öffentlich zu teilen und offensichtlich ein Medium gefunden hatten, dass ihnen voll und ganz entsprach und sie zum Strahlen brachte. Ich empfand große Dankbarkeit und obwohl ich nicht jedes einzelne Wort verstanden habe, so fühlte ich mich voll und ganz berührt und mitgenommen.

Und da leuchtete mir auf, worum es hier eigentlich wirklich ging: In der virtuellen Welt von Facebook und Co. bemühen wir uns so sehr darum, unsere allerfeinste Schokoladenseite herauszukehren, ein vorselektiertes Ich zu präsentieren, das perfekte Urlaube verbringt, perfekte Hobbies ausübt, perfekte Gerichte kocht und überhaupt so toll ist, dass unbedingt 3892 Leute weltweit auf unserer Freundesliste stehen wollen. So ein Open Mic bringt einen wunderbar wieder auf den Boden der wenngleich unschmeichelhaften, so doch unverstellten Tatsachen zurück. Hier zwischen all diesen schreibwütigen Laien-Poeten wird mir eindrucksvoll klar, dass es überhaupt nicht schlimm ist unfertig zu sein, solange man es eben auf seine ganz eigene Weise ist. Genau dafür steht der Open Mic. Er ist ein rührendes Bekenntnis zur Imperfektion, in der am Ende die wahre Vollkommenheit schlummert.

Also, seien wir doch mal wieder ein wenig unvollkommen. Wer steht als nächstes auf der Bühne?

Hast du schon mal an einem Open Mic teilgenommen als Zuschauer oder Votragender? Wie hast du es erlebt?

Schreibe doch darüber in einem Kommentar. Ich freue mich auf jede Nachricht und antworte gern darauf!

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