# 188 - Über eine Jüdin, die andere Juden in den Tod schickte

Ich hatte im Januar auf diesem Blog über die Lesung eines
# 188 - Über eine Jüdin, die andere Juden in den Tod schickteBuches geschrieben, über das seit seiner Veröffentlichung viel diskutiert wurde. Die Kulturseiten der allermeisten Printmedien haben es praktisch in der Luft zerrissen, etliche Buchhändler weigerten sich, es zu verkaufen, während einige ihrer Kollegen Werk und Autor in Schutz nahmen und das Gegenteil zusagten. Es geht um den Roman Stella von Takis Würger. Ich war von der Lesung, die de facto keine war, ziemlich enttäuscht und hatte danach nicht mehr vor, das Buch zur Hand zu nehmen. Aber dann lief es mir über den Weg und ich beschloss, mir nun doch selbst ein Bild zu machen, was an den Anwürfen gegen Würger und sein Werk dran ist.
Die titelgebende Stella Goldschlag hat es tatsächlich gegeben, und es ist ihr Gesicht, das uns auf dem Buchcover entgegenlächelt. Sie war eine junge Jüdin, die in Berlin lebte und sich ihren Lebensunterhalt auf mehreren Wegen verdiente. Einen davon wird man im Verlauf der Handlung näher kennenlernen. Stellas Reaktion auf die Erpressung der Nazis und den Wunsch, ihre Eltern zu schützen, hat Takis Würger recherchiert. Fiktion sind hingegen die Figur des jungen Friedrich, der gutsituiert in der Schweiz in der Nähe des Genfer Sees aufwächst, sowie seine Liebesgeschichte mit Stella. 
Friedrichs Mutter ist gebürtige Deutsche und macht ihrem Sohn von klein auf klar, dass sie Juden für Untermenschen hält. Die ohnehin zerrüttete Ehe der Eltern erlebt ihren Tiefpunkt, als die von ihrem Leben enttäuschte Frau auf dem Dach der Familienvilla eine Hakenkreuzfahne hisst, die der Vater aufgebracht entfernt. Friedrichs Vater wiederum ist geschäftlich ständig unterwegs, zu einem Gutteil wohl aber auch, um seine ständig betrunkene Gattin nicht täglich aushalten zu müssen. 
Mit 19 entschließt sich Friedrich, das, was man über das Geschehen in Deutschland und insbesondere in Berlin hört und liest, selbst anzusehen. Er reist im Januar 1942 als Tourist in die deutsche Hauptstadt, mietet sich in ein Grand Hotel ein, dessen Kosten von seinem Vater übernommen werden, lernt die gutaussehende Kristin kennen und verliebt sich in sie. Erst spät begreift er, welches Geheimnis die junge Frau verbirgt: Um die Eltern vor dem KZ zu bewahren, arbeitet sie für die Nazis als sogenannte Greiferin, verrät also untergetauchte Juden an die Gestapo.
Ich hatte mit Stella einige Schwierigkeiten. Mich hatte bereits irritiert, dass Takis Würger im Verlauf der Lesung geäußert hatte, sich mit Stella Goldschlag beschäftigt, sich für das Buch jedoch von ihr gelöst zu haben. Aber unabhängig davon, wie viel Verständnis man der tatsächlichen Stella entgegenbringt, kann ich nicht nachvollziehen, warum solch eine Persönlichkeit, die ihren Verrat auch fortsetzte, nachdem ihre Eltern getötet worden waren, eine der Hauptfiguren in einer problematischen Liebesbeziehung wird. Ihr Tun wird im Romantext nur angedeutet, das Leid ihrer Opfer wird nur angerissen, indem Würger aus den Ermittlungsakten zitiert, die im Zusammenhang mit dem späteren Gerichtsverfahren gegen Stella Goldschlag angelegt wurden. Jeder Verrat wird hier bürokratisch wie ein behördlicher Vorgang abgewickelt. Warum Würger diesen Weg wählt, obwohl er zu Beginn seines Buches selbst darauf hinweist, dass sein Urgroßvater 1941 im Rahmen der Aktion T4 den Nazis zum Opfer gefallen ist, erschließt sich mir nicht. Hinter diesem Kürzel steckt immerhin die systematische Ermordung von etwa 70.000 behinderten Menschen zwischen 1940 und 1945. Warum also diese Distanziertheit, obwohl es doch eine persönliche Betroffenheit gibt? Oder soll diese Information den Autor dazu legitimieren, sich als Nachkomme eines Opfers des nationalsozialistischen Regimes zum Thema äußern zu dürfen? Wenn es so wäre, hätte ich ebenfalls diese Art von Legitimation; ich halte mich aber nicht für ausreichend kompetent, etwas über den Holocaust zu schreiben, nur weil ein körperlich eingeschränkter Verwandter in gleicher Weise "entsorgt" wurde wie Würgers Urgroßvater. Auch nicht nach einer Recherche wie der, die der Autor durchgeführt hat. Der gemeinsame Nenner der damaligen massenhaften systematischen Ermordung von Juden und der Beseitigung des unwerten, weil behinderten Lebens ist die gewaltsame Auslöschung. Vom einen auf das andere zu verweisen, empfinde ich als schwierig.
Unbegreiflich ist mir auch die Figur des Friedrich geblieben. Sein Handeln zeugt von einer kaum nachvollziehbaren Naivität, die schon mit der Abreise aus der neutralen Schweiz nach Berlin beginnt und von der ihn niemand zu Hause ernsthaft abzuhalten versucht. Um einen Vergleich zu bemühen: Muss man sich in die Nähe eines hungrigen Löwen begeben, weil man gehört hat, dass die Tiere mit leerem Magen besonders angriffslustig sind, man das jetzt aber doch mal selbst live und in Farbe erleben will? Auch der Weg zur Erkenntnis ist bei dem jungen Mann lang: Bis er realisiert, was die Frau, in die er so verschossen ist, wirklich tut und dass sie nicht Kristin, sondern Stella heißt, ist das Buch zur Hälfte gelesen. Friedrich ist ein naiver Vollidiot, um es deutlich zu sagen. Sein kritikloses Verhalten gegenüber Stella ist nur schwer zu ertragen. Es gibt keinen Moment, in dem er gegen ihr lange Zeit rätselhaft wirkendes Benehmen aufbegehren oder wenigstens konkrete Fragen stellen und auf einer klaren Antwort bestehen würde. Statt dessen registriert er beispielsweise, dass Stella ständig mit Pervitin gefüllte Pralinés nascht und kauft ihr für viel Geld mehrere Packungen, um ihr eine Freude zu machen. Pervitin war der Handelsname eines seit 1938 vertriebenen Präparats, das heute unter dem Namen Methamphetamin oder den kürzeren Bezeichnungen "Meth" und "Crystal Meth" bekannt ist.
Auch Friedrichs Versuch, Stellas Eltern zu befreien, scheitert an seinem Glauben daran, dass eine getroffene Abmachung gilt - auch wenn es sich dabei um den Bestechungsversuch eines Nazis handelt.
Stella konnte mich nicht überzeugen. Mir fehte es an vielen Stellen an der Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit. Ich habe auch Schwierigkeiten damit, ein historisch monströses Ereignis wie die Massentötung der Juden während des Dritten Reichs in eine (seltsame) Liebesgeschichte hineingezwängt zu sehen. Durch den sachlichen Schreibstil scheint Würger eine Distanz zwischen sich und der Handlung seines Buches aufbauen zu wollen, so dass es wirkt, als sei er hier nur der Chronist, den das alles nicht wirklich etwas anginge. Doch wie passt das mit dem Hinweis auf seinen Urgroßvater zusammen? Ich habe darauf keine Antwort.
Stella ist bei Hanser erschienen und kostet als gebundenes Buch 22 Euro, als epub- oder Kindle-Ausgabe 16,99 Euro sowie als Audio-CD 13,27 Euro.

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