Am Anfang war das große Säbelrasseln: Am 18. Januar 1871 (heute vor 143 Jahren) rufen die deutschen Fürsten den König von Preußen zum Deutschen Kaiser aus. Dabei sträubt sich Wilhelm I. bis zuletzt. Für ihn war, ist und bleibt Preußen das Maß aller Dinge. Nur widerwillig fügt er sich in die Nationalstaatspläne seines Eisernen Kanzlers: Otto von Bismarck hatte sich das Deutsche Reich in drei Einigungskriegen (gegen Dänemark, Österreich und Frankreich) und mit diplomatischem Geschick auf den Leib geschmiedet. Doch jeder Leib ist vergänglich. Seinen (weit weniger fähigen) Nachfolgern hat Bismarck eine kraftstrotzende Militärmacht geschaffen, die den Weg in die Katastrophe der Weltkriege im Stechschritt zurücklegt.
Davon ist lange nichts zu sehen - schon gar nicht in Wilhelms Lebensgeschichte. Die erzählt von zwei Auferstehungen aus den napoleonischen und den revolutionären Ruinen: Geboren 1797 findet sich der preußische Prinz erst einmal auf der Flucht wieder. Napoleon überrennt Europa und die Hohenzollern ducken sich im östlichsten Zipfel ihres Königsreichs weg. Nachdem Frankreich geschlagen ist, scheint die Stunde der Kronprinzen zu schlagen. Zuerst besteigt Wilhelms Bruder Friedrich Wilhelm IV. den Thron. Er gibt den romantisch-verklärten, rückwärtsgewandten Monarchen absolutistischer Prägung. Seine Regentschaft überlebt die Revolution von 1848 nur, weil die Revolutionäre lieber untereinander streiten, als mit der Krone. 1861 folgt Wilhelm seinem Bruder nach, der zusehends in geistige Umnachtung verfallen ist. Wilhelm verachtet den Pathos seines Bruders, den er für einen "Schwätzer" hält. In der Vorstellung vom Gottesgnadentum sind sich beide einig. Wilhelms I. Vorstellung vom Königtum hat jedoch eine zweite Stütze, das Militär. Er lässt Bismarck zwar die politischen Zügel, behält aber das letzte Wort in militärischen Führungs- oder Kommandofragen. Genauso wichtig sind ihm die preußischen Traditionen: Davon legt schon seine Königskrönung eindrucksvoll Zeugnis ab. Wie alle Hohenzollernkönige vor ihm besteigt er, den preußischen Thron, indem er sich selbst unter dem einfallendem Sonnenlicht von Gottes Gnaden krönt; die Szenerie spiegelt einen Moment monarchischen Muskelspiels mit mittelalterlich-majestätischen, modern-militärischen Merkmalen:
Im Regierungsalltag verkörpert Wilhelm die preußischen Tugenden: Er ist gottesfürchtig und würdevoll, selbstbeherrscht und diszipliniert, genügsam und frei von Skandalen. Der gute alte Kaiser Wilhelm mit dem großväterlichen Backenbart ist nicht nur bei seinen Untertanen beliebt. Sein Preußen ist auch auf dem internationalen Parkett berechenbar und verantwortungsbewusst. Wie schnell aber Macht in Machtmissbrauch umschlagen kann, zeigt die unheilvolle Regentschaft von Wilhelms Enkel: Wilhelm II. begnügt sich nicht mit Hurra- und Hoch-Rufen, nicht mit Orden und Paraden. Er will nicht Preußens Glanz und Gloria, er will Deutschlands Weltmacht - und dieser unseelige Größenwahn ist der Nährboden des Ersten Weltkriegs...