150 Jahre SPD und das HartzIV-Erbe

Von Eckhardschulze

An und für sich ist der Öffentlichkeit kaum bekannt, dass die AGENDA 2010-Politik unter Ausschaltung der SPD, der Bundestagsabgeordneten der SPD und der GRÜNEN, vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und wenigen Mitarbeitern des Kanzleramtes, darunter Walter Steinmeier, gegen seine eigene Partei und die Gewerkschaften durchgesetzt wurde. Insofern war die AGENDA 2010 Teil des Kampfes von Gerhard Schröder gegen seine eigene Partei und gegen die Gewerkschaften (Stichwort: gescheitertes Bündnis für Arbeit zwischen Unternehmen und Gewerkschaften in 2002).

Bemerkenswert ist, dass die SPD bis heute ein “gestörtes Verhältnis” zu der AGENDA 2010-Politik hat, auch weil dadurch der prozentuale Niedergang einsetzte und die Partei Die Linke Mitglieder der SPD und der Gewerkschaften einsammelte und mit einer eigenen Fraktion in den Bundestag und in Landesparlamente einzog.

Von den stolzen Prozenten jenseits der 30 % bei Wahlen blieb danach wenig übrig; die Medien schafften es nicht den Bürgern vollends zu verheimlichen, dass  beispielsweise mit der AGENDA 2010-Politik erst die Absenkung der Steuersätze für die Wohlhabenden finanziert werden konnte. Hinzu kam, dass zunehmend in jeder Familie und im Bekannten- und Freundeskreis das wahre menschenverachtende Gesicht der HartzIV-Gesetzgebung nach und nach bekannt wurde, wenn die Betroffenen anfangs noch umfänglicher ihr Schicksal schilderten, das sie zu Bürgern 2. Klasse machte, ausgesetzt einer oft eiskalten Behördenmaschinerie, die mehr auf SANKTIONEN setzte und in die Vermittlung von boomenden 1-Euro-Jobs und anderer prekärer Beschäftigung, auch mangels vorhandener Vollarbeitsplätze. 

Die Face-to-Face-Kommunikation der Bürger war jedenfalls stärker, als die mediale Beeinflussung und die Beteuerungen der Politiker, wie es Frank Nullmeier in seiner Ausarbeitung – Die Agenda 2010: Ein Reformpaket und sein kommunikatives Versagen – zutreffend analysiert. “Die mächtige Instanz der Bürger” bereitete der SPD dann eine krachende Wahlniederlage, von der sie sich bis heute nicht erholt hat.

Wenn Frank Nullmeier schreibt:

“Die Alltagskommunikation verfügt über eine gewisse Eigendynamik und versteht es, sich in bestimmten Fällen gegen alle Einflüsse abzuschotten.”

dann bedeutet “Eigendynamik” wohl, dass die Bürger hautnah die Diskrepanz zwischen Huldigungen der AGENDA 2010-Politik und prekäre und menschenunwürdige Behandlung der Betroffenen wahrnehmen und die Beteuerungen der Politiker als schlichte Unwahrheit klassifizieren. Hinzu kommt, dass jeder Bürger, der nicht Unternehmer ist, die Nähe des HartzIV-Abgrundes spürt, in den er allzu leicht und ohne Möglichkeit der Gegenwehr dauerhaft geraten kann. Es ist auch die Angst vor der Armut  und der daraus folgenden Altersarmut und, je nach Alter, dem chancenlosen endgültigem Abstieg in die Armut, die der SPD den Stimmenverlust und den Mitgliederschwund beschert hat. Der bis heute verkündete “Schein” der Parteioligarchen und die Realität der wahrgenommenen Armut ist offenkundig, ja geradezu ein Verrat gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, weil die SPD sich vor der Realität der HartzIV-Auswüchse drückt und die rudimentär vorhandenen positiven Effekte rhetorisch überbetont. Das gilt auch insbesondere für die (rechtswidrig) zu niedrig bemessenen SGB II-Leistungen (Regelsatz, Existenzminimum), die seit Jahren von den Abgeordneten der SPD mit verabschiedet werden.

Was HartzIV bedeutet, hat Sabrina im Blog Freiheitsliebe zum Ausdruck gebracht:

Hartz IV, das bedeutet nicht, sich irgendwie schon durchschlagen zu können. Das bedeutet, dass zu wenig Geld zum Leben zur Verfügung steht und man trotzdem klar kommen muss. Dazu gehört, dass man sich die Kopfschmerztabletten nicht mehr leisten kann, die Busfahrkarte, dass das Geld ab der Mitte des Monats nicht mehr für das Essen reicht, dass die Strompreise steigen, der Regelbezug aber nicht, Hartz IV bedeutet, dass man wegen ein paar Quadratmetern zu viel seine Wohnung aufgeben muss, Hartz IV bedeutet Essen bei der Tafel und Kleidung aus dem Rot-Kreuz-Laden. Es bedeutet Kinder, die an der Supermarktkasse stehen und mit großen, traurigen Augen auf bunte Süßigkeiten oder kleine Spielzeuge starren, die ihnen ihre Eltern nicht kaufen können, die hungrig ins Bett gehen und keine Schuhe, keine Bücher und kein warmes Essen bekommen. Hartz IV bedeutet auch, von jeder gesellschaftlichen Entwicklung abgeschnitten zu sein. Ein Kinobesuch? Ausgeschlossen. Freizeitpark? Theater? Ein Computer? Unmöglich.

Unsichtbar mitten in der Gesellschaft

Die Hartz IV Gesetze haben eine soziale Paria-Kaste geschaffen, die man nicht nur an den verschlissenen Kleidern, sondern vor allem am schamvoll gesenkten Blick erkennt. Das ist wohl das Schlimmste, das diese unmenschliche Gesetzgebung verursacht hat. Die Menschen, die sich ihrer Armut schämen, denen die Gesellschaft das Gefühl gibt, dass sie versagt haben, nicht das System, dem es nicht gelingt, genug Arbeitsplätze zu schaffen oder zumindest eine menschenwürdige Versorgung oder einen Mindestlohn, der dafür sorgt, das man von seiner Arbeit leben kann. Die Scham lässt diese Menschen unsichtbar werden, mitten in unserer Konsumgesellschaft. Armut ist ein Stigma, mit dem niemand gern hausieren geht, weil es in unserer Gesellschaft immer mit persönlichem Scheitern gleichgesetzt wird.

Bemerkenswert ist, dass die Parteioligarchen der SPD die REALITÄT bis heute verbal kunstvoll verdrängt haben. Es mangelt an Wahrheitsfähigkeit und an dem Willen, die “ungewollten” und beinahe alleine durch Gerhard Schröder, mit Hilfe und in Zusammenarbeit mit neoliberalen Stiftungen (z.B. Bertelsmann) und einigen Wissenschaftlern, durchgesetzte AGENDA 2010-Politik richtig und ehrlich zu würdigen. Stattdessen nimmt man “höhnisch” und “zynisch” wirkende Lobeshymnen der politischen (neoliberalen) Gegner anlässlich der 150-Jahr-Feier entgegen ohne die Kraft und den Anstand dafür aufzubringen, anlässlich dieser Feier und der Erinnerung an den Anfang der Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter für die begangenen FEHLER endlich Verantwortung zu übernehmen. Das wäre geradezu geboten, weil der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, wie oben skizziert, den Alleingang ohne die Partei während seiner Regierungszeit durchgesetzt hatte und sogar aufgrund der Widerstände den Parteivorsitz aufgab.

Dass der Kanzlerkandidat Steinbrück jetzt den Vorstand einer Gewerkschaft in sein Team aufgenommen hat, kann als Signal der Abkehr von der Schröder-Politik (Stichwort: Boss der Bosse) gewertet werden. Immerhin.

Sofern die SPD immer noch nicht die Kraft zur Wahrheit aufbringt, um die AGENDA 2010-Politik mit ihren “unmenschlichen Folgen” richtig einzuordnen, dafür Verantwortung zu übernehmen und Abhilfe und eine grundlegende und glaubhafte neue Orientierung zu verkünden, wird sie weiterhin nahe der 20 % verbleiben.