15 Jahre Telegraph
Der Geburtstag der letzten noch existierenden Zeitschrift der linken DDR-Opposition bot Anlass zu Reflektionen
Im Oktober 1989 erschien in Ost-Berlin die Zeitschrift Telegraph. Auf wenigen bedruckten Seiten in s/w, in geringer Auflage und mit einfachen technischen Mitteln hergestellt, war sie ein Medienprodukt außerhalb der engen staatlichen Medienkontrolle. Genannt wurden solche Publikationen, die das Pressemonopol unterliefen und somit illegal erschienen – auch wenn die Verfassung der DDR die Pressefreiheit kannte – Samisdat-Produkte (russ: Selbstverlag).
Gegründet mit dem konkreten Ziel eine Gegenöffentlichkeit zu der von den Parteizeitungen der SED dominierten Presselandschaft herzustellen, überlebte der Telegraph nicht nur die Wende, sondern auch die Jahre danach und blickt mit der aktuellen Ausgabe Nr. 110 in diesen Tagen auf eine 15-jährige Geschichte zurück. Was allerdings nicht ganz korrekt ist, denn der Telegraph ist Nachfolger einer Zeitung namens Umweltblätter, die bereits seit 1986 von der Umweltbibliothek in Ost-Berlin herausgegeben wurde.
Das runde Datum nutzend, luden die Herausgeber am 55. Jahrestag der DDR-Gründung in das Berliner Haus der Demokratie zum Feiern, Gedenken und Diskutieren ein. Das ausschließlich männlich besetzte Podium reflektierte über “Gegenöffentlichkeit – Unabhängige Medien Ost/West im Wandel der Zeit”. Hans-Jochen Vogel von der AG Offene Kirche Sachsen und Telegraph-Autor erinnerte dabei an die Geschichte des Telegraph, der sich der westlichen Vereinnahmung entzogen habe, ohne ostalgisch zu sein. Eckart Spoo, Ossietzky-Herausgeber zog Vergleiche zwischen dem Telegraph und den Gegenöffentlichkeit-Versuchen der 68-er. Er hält die derzeitige Mediensituation in Deutschland für verfassungswidrig, da ein pluralistische Publizität nicht gegeben sei. Spoo vergaloppierte sich jedoch, als er den Springer-Konzern auch für eine mediale Monokultur im heutigen Osten Deutschlands verantwortlich machte. Springer ist, anders als Spoo meint, nicht monopolistischer Eigentümer der ostdeutschen Zeitungen. Andreas Fanizadeh, Die Beute-Herausgeber verneinte denn auch die auf dem Podium und im Publikum vertretene Auffassung, andere Medien hätten keine Chance in Deutschland. Zeitschriften wie der Telegraph seien viel mehr per Definition als alternative Medien immer nur für eine bestimmte, kleinere Öffentlichkeit gedacht.
Während der anschließenden Publikumsbeteiligung mutierte die Feierlichkeit zu einem chaotischen Themen-Hopping. Die eventuell existierende Krise linker Medien und der Linken allgemein, Zensur und Meinungsfreiheit, Flick-Collection und Dietrich Diederichsen wild durcheinander. Die Spreu vom Weizen getrennt, ergab sich folgendes Bild:Für Thomas Kupfer von Radio Corax in Halle müssen alternative Medien nicht zwangsläufig scheitern. Wenn sie dies dennoch tun, dann eher an sich selbst, z.B. durch fehlende Modelle materieller Existenzsicherung.Christoph Villinger (Journalist, u.a. TAZ, Jungle World, Tagesspiegel) warnte vor der in linken Medien häufig anzutreffenden Skepsis gegenüber professionellen Strukturen. Er findet es anachronistisch, dass der Tischlermeister im Handwerk akzeptiert werde, weil er wichtiges Wissen weitergibt, der potentiell ratgebende Chefredakteur im linken Presse-Handwerk dagegen verpönt sei. Sebastian und Jens, Vertreter unbekannten Nachnamens vom Indymedia-Netzwerk (IMC), die sich jedoch dagegen verwahrten Indymedia-Vertreter zu sein, hielten professionelle Strukturen z.B. in Form von Redaktionen für keine geeignete Form tragfähiger Medienarbeit. Zwar sei es richtig, dass das Indymedia-Modell – jede/r darf alles schreiben und jede/r darf Moderator/in im System werden – auch viel Informationsmüll produziere. Allerdings sei der Ausweg aus der Informationsflut im Informationszeitalter nicht die Auswahl durch Redakteure, sondern die Stärkung der Medienkompetenz der Rezipienten, die Produzent und Nutzer in einer Person sein müssten. Also mit Enzensberger: “Hinweise … könnten netzartige Kommunikationsmodelle liefern, die auf dem Prinzip der Wechselwirkung aufgebaut sind: eine Massenzeitung, die von ihren Lesern geschrieben und verteilt wird”.
Wolfram Kempe (früher Wochenzeitung Die Andere) erinnerte daran, dass Gegenöffentlichkeit nur dann funktioniert, wenn es publizistische Gegner gibt. Die Emanzipation der DDR-Zeitungen von der SED und den Blockparteien führte dazu, dass die Aufgabe der bürgerbewegten DDR-Zeitungen verschwand. In demokratischen Gesellschaften gebe es dennoch Chancen für Gegenöffentlichkeiten. So sei die links-liberale Frankfurter Rundschau (FR) eine Gegenöffentlichkeit zur rechts-konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und umgekehrt.Ein Fazit aus 15 Jahren Telegraph ist wohl: In einer Mediengesellschaft gibt es genügend Platz für unterschiedliche Medien, die wiederum publizistische Gegner bedingen und hervorbringen. Zensur von außen ist in Deutschland nicht das Problem, sie findet eher im Kopf der Medienarbeitenden statt. Die klassische, bürgerliche Öffentlichkeit befindet sich im Sinkflug. Die Zeitungsbranche leidet unter argen finanziellen Existenzsorgen, der öffentlich-rechtliche Rundfunk erfüllt seinen Bildungsauftrag nicht mehr. Die Krise der Linken reflektiert sich in ihren Medien. Ein anderes Fazit ist: Alle Medien, egal welcher politischen Ausrichtung und strukturellen Organisation haben das gleiche Problem. Sie können nur überleben, wenn sie kluge Autoren und genügend Leser, Hörer oder Zuschauer haben. “Die Hörer”, so Thomas Kupfer von Radio Corax, “muss man sich auch durch Qualität erarbeiten”. Der heutige Telegraph, eine angenehm kopflastige Zeitschrift mit viel Text in übersichtlichem Layout, hat also durchaus eine Chance.
Der Telegraph im Internet: http://www.telegraph.ostbuero.de