# 143 - Heile Welt im Kinderzimmer?

Das schlimmste Unglück, das sich Eltern vorstellen können


# 143 - Heile Welt im Kinderzimmer?Dann schlaf auch du von der französisch-marokkanischen Schriftstellerin Leïla Slimani ist überwiegend in der Rue d'Hauteville im 10. Arondissement von Paris angesiedelt. Das Ehepaar Paul und Myriam Massé lebt dort mit seiner kleinen Tochter Mila und dem Sohn Adam, der noch ein Baby ist. Das Buch beginnt mit dem Schlimmsten: Während die Eltern bei der Arbeit sind, werden die Kinder Adam und Mila von ihrem Kindermädchen Louise so schwer mit einem Sushi-Messer attackiert, dass Adam noch in der Wohnung und seine Schwester im Krankenhaus stirbt. Das Kindermädchen versucht, sich in der Badewanne durch das Aufschneiden der Pulsadern umzubringen, wird aber lebend ins Krankenhaus gebracht, wo sie ins Koma fällt.

Wie bekommt man sein Leben mit Kindern in den Griff?

Die Probleme beginnen für Myriam nach der Geburt von Adam: Alles ist mit zwei Kindern mühsamer, die junge Mutter vermisst Ruhe und Freizeit sowie anregende Gespräche, die sich mal nicht immer nur um den Nachwuchs drehen, und trauert nach ihrem entbehrungsreichen Jurastudium den verpassten Jobchancen hinterher. Ihr Mann ist ein aufstrebender Musikproduzent, hat reichlich Abwechslung, aber für Myriams Befindlichkeiten nur begrenzt Verständnis.  Als sie sich immer mehr sozial isoliert und ihr ihre Unzufriedenheit auch durch äußerliche Nachlässigkeit anzusehen ist, trifft sie zufällig ihren ehemaligen Kommilitonen Pascal auf der Straße. Diese Begegnung lässt sie die Kluft zwischen ihrem jetzigen und dem Leben, das sie ohne ihre Kinder hätte führen können, noch deutlicher spüren. Ihre Verzweiflung ist so groß, dass sie zusammen mit ihrem Mann nach einer Möglichkeit sucht, die Kinder tagsüber zuverlässig betreuen zu lassen. Der Zeitpunkt für eine Unterbringung in einer Krippe ist ungünstig, deshalb entscheiden sie sich, nach einem Kindermädchen zu suchen. 
Doch Myriam fühlt auch den Zwiespalt, den ihre Entscheidung mit sich bringt: Sie hat ihre Kinder von ihrem ersten Atemzug an ununterbrochen um sich gehabt, sie allein fühlt zuverlässig, wie es ihnen geht. Die junge Mutter ist davon überzeugt, dass niemand so gut auf Mila und Adam aufpassen kann wie sie.
Paul und Myriam bitten mehrere Bewerberinnen zu einem Vortsellungsgespräch. Auch Louise ist eingeladen, die sofort einen sehr guten Eindruck hinterlässt: Mila ist ihr gegenüber völlig unbefangen, und Louise wirkt selbstsicher und in sich ruhend. Sie kann mit Referenzen aufwarten: Ihre früheren Arbeitgeber loben sie in den höchsten Tönen. Louise bekommt die Stelle.

Man kann in niemanden hineinsehen

Slimani baut die Handlung so geschickt auf, dass die Spannung nie verloren geht, obwohl der grausige Höhepunkt von Beginn an bekannt ist. Sie schildert das trostlose Leben von Louise, die einige Jahre zuvor Witwe geworden ist. Ihr Mann war primitiv und grob; die Ehe als freudlos zu bezeichnen, wäre noch geschmeichelt. Ihre heute erwachsene Tochter hat als Jugendliche gegen ihre Eltern und das triste Zuhause rebelliert und ist als Teenager plötzlich verschwunden. Louise hat ihr Verschwinden nie bei der Polizei gemeldet, ihr Kind nie gesucht und nur über die nachbarschaftliche Gerüchteküche erfahren, in welcher Gegend Frankreichs  sich ihre Tochter aufhält. Nach dem Tod ihres Mannes erbt sie dessen Schulden und muss aus dem bescheidenen Eigenheim in eine verrottete Mietwohnung in einem schlechten Pariser Viertel ziehen. Ihre Sozialkontakte beschränken sich seit ihrer Einstellung bei der Familie Massé auf sie und eine andere Nanny, die sie durch die regelmäßigen Besuche des nahen Spielplatzes kennt.
Bei den zunächst seltenen Begegnungen bemerkt Myriam, dass sich Louise nicht immer so benimmt, wie man es von einer Erwachsenen erwarten würde. Indianerspiele spielt sie mit ihren beiden Schützlingen mit einer so großen Ernsthaftigkeit und Intensität, die sonst nur für Kinder typisch ist. Für die Eltern bleibet noch unbemerkt, dass ihr Kindermädchen mit Adam und Mila auch eigentlich harmlose Spiele in für die Kinder beängstigende Szenarien verwandelt, bei denen die beiden regelmäßig in Tränen ausbrechen und völlig verzweifelt sind. Hier ahnt der Leser, dass mit Louise irgendetwas nicht stimmen kann.
Das, was Paul und Myriam an Louise schätzen, ist ihre unbedingte Zuverlässigkeit und grenzenlose Flexibilität: Es ist für sie kein Problem, mehrnals pro Woche auch am späten Abend auf die Kinder aufzupassen, wenn ihre Arbeitgeber mal etwas allein unternehmen wollen. Sie begleitet die Familie sogar in den Urlaub nach Griechenland. Louise sickert nach und nach förmlich in die Familie ein und macht sich unentbehrlich. Je mehr dieser Prozess voranschreitet, desto mehr versucht sie jedoch auch, die Eltern zu beeinflussen. Es ist ihr da bereits gelungen, die beden Kinder zu manipulieren. Doch je deutlicher ihre Bemühungen in dieser Richtung sind, umso stärker versucht sich insbesondere Myriam gegen sie abzugrenzen. Sie spürt ihr eigenes Unbehagen ihrer Angestellten gegenüber und möchte mit ihr so wenig wie möglich in einem Raum sein. Andererseits ist sie sich aber deutlich bewusst, dass sie und Paul Louise brauchen, wenn sie weiterhin beide in ihren Berufen erfolgreich sein wollen. Ein ums andere Mal schieben Paul und Myriam ihre Bedenken beiseite. Auch dann, als es zwischen Paul und Louise nach einem Vorfall um Mila zu einer handfesten Auseinandersetzung kommt und sich die Eltern mehr und mehr über Louises Art ärgern. Durch einen Zufall efahren Paul und Myriam, dass ihr Kindermädchen wegen Forderungen der Finanzbehörde in ernsten finanziellen Schwierigkeiten steckt und fordern sie auf, diese zu regeln. Dass Louise so sehr in der Klemme steckt, dass sie nicht mal mehr ihre marode Unterkunft bezahlen kann, ahnen sie nicht. Auch nicht, dass ein Arzt eines nahen Krankenhauses ihr einmal eine "delirierende Melancholie" diagnostiziert hatte. Immer, wenn Myriam sich über einzelne Reaktionen oder Varhaltensesien Louises wundert, schiebt sie ihr ungutes Gefühl beiseite und macht sich selbst Vorwürfe, dass sie sich der Nanny gegenüber nicht sensibel genaug verhält. Der Umstand, dass sich die Massés und ihre Angestellte in zwei sehr unterschiedlichen sozialen Schichten befinden, wird im Laufe der Handlung allen Beteiligten mit einer immer bedrückenderen Klarheit bewusst. Doch dass die Nanny ihre Pflichten der Familie gegenüber grob vernachlässigt und immer stärker von ihrem psychisch desolaten Zustand in einem Klammergriff gehalten wird, ahnen weder Paul noch Myriam. Louise verändert sich von einem den Kindern zugewandten Menschen zu einem Monster. 

Wie war's?

Dann schlaf auch du schafft das Kunststück, dass man das Buch bis zum Schluss nicht zur Seite legen mag, obwohl das schreckliche Finale bekannt ist. Bis zur letzten Seite wollen etliche Fragen, die sich dem Leser zwangsläufig stellen, beantwortet werden: Wann überwinden die Eltern endlich ihre Zweifel? Wie konnte es so weit kommen, dass Louise sich an den hilf- und arglosen Kindern vergreift, die ihr vertrauen? Für diesen Roman wurde Leïla Slimani mit dem höchsten Literaturpreis Frankreichs, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Ich finde, verdient.
Dann schlaf auch du ist im Luchterhand Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 20 Euro, als epub- oder Kindle-Edition 15,99 Euro, als Hörbuch 12,99 Euro und als Audio-CD 12,62 Euro.

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