# 140 - "The German" in den USA

Von Inadegenaar

Nichts wie weg aus Schleswig-Holstein

Joachim Meyerhoff schreibt in seinem Buch Alle Toten fliegen hoch - Teil 1: Amerika über sein Leben als Teenager Mitte der 1980er Jahre, als er als norddeutsches Landei nichts anderes will, als möglichst weit weg von zu Hause etwas völlig Neues zu machen. Dank einer Finanzspritze seiner Großeltern verbringt er als Achtzehnjähriger ein Jahr in den USA: bei Hazel und Stan, sehr religiösen Eltern von drei Söhnen, von denen einer noch bei ihnen lebt. Es verschlägt Meyerhoff nach Laramie im Bundesstaat Wyoming, eine Gegend, die nur aus Prärie zu bestehen scheint und wo die Fernsehsender tagein tagaus einen Western nach dem anderen senden. Diese Situation hat er in einem Moment der vermeintlichen Cleverness selbst herbeigeführt: Als er beim Auswahltermin der Austauschorganisation in Hamburg nach seinen Vorlieben gefragt worden war, hatte er versucht, so zu antworten, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit ausgewählt werden würde. Mit ihm hatten sich nur noch schnöselige Jugendliche aus wohlhabenden Elternhäusern beworben, die fast alle aus Hamburg kamen - der Stadt, die aus Sicht von Meyerhoff mit einem geheimnisvollen Großstadtflair umwabert war. Da konnte er nur noch punkten, wenn er das mutmaßliche Gegenteil dessen angab, was seine Konkurrenten ankreuzen würden: tiefe Religiosität, der Wunsch nach dem Leben auf dem Land und große Genügsamkeit. Die Tatsache, dass seine Englischkenntnisse nur lückenhaft waren, verschwieg er.

"The German" mitten im Kulturschock

In Amerika lernt er viel über die dortige Kultur kennen: Sport spielt eine sehr große Rolle, und er fühlt, dass er erst mit der Aufnahme in das Basketballteam seiner Schule richtig angekommen ist und akzeptiert wird, auch wenn der Spitzname "The German" an ihm klebt wie Kaugummi an der Schuhsohle. Er registriert die Selbstverständlichkeit von Waffenbesitz, und irritiert nimmt er die Begeisterung seiner Gasteltern für eine Familienserie zur Kenntnis, in der täglich ein vorher angekündigtes Essen zubereitet und von der TV-Familie überschwänglich gelobt wird - parallel wird diese Mahlzeit auch in seinem neuen Zuhause aufgetischt und entsprechend kommentiert. 
Meyerhoff lernt ein Mädchen kennen, macht erste Erfahrungen mit der Sexualität, freundet sich geduldig mit dem misstrauischen Pferd seines ihn quälenden Gastbruders an und fühlt sich mehr und mehr zugehörig und zuhause. Doch dann reißt ein Anruf seines Vaters ihn aus diesem neuen Leben: Sein mittlerer Bruder, der in Kürze mit seinem Medizinstudium beginnen wollte, ist bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Meyerhoff reist für die Beerdigung zurück nach Deutschland, schafft es aber nicht, seine Trauer zuzulassen. Nach wenigen Wochen reist er zurück zu Hazel und Stan, um sein Auslandsjahr fortzusetzen. Über den Kontakt zu einem seiner ehemaligen Lehrer in Laramie lernt er im örtlichen Gefängnis flüchtig den zum Tode verurteilten Doppelmörder Randy Hart kennen und verspricht ihm, ihm zu schreiben. Randy ist der Sohn eines US-Soldaten und einer Deutschen, hat die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht und wurde später als amerikanischer Soldat in Deutschland stationiert, wo er einen Tankwart und dessen Frau erschoss. Tatsächlich entwickelt sich daraus eine Brieffreundschaft, die Meyerhoffs Abreise aus den USA überdauert - auf Deutsch.
Zurück in Deutschland erlahmt der Eifer des Autors, Hart weiter zu schreiben. Er möchte keinen Kontakt mehr zu ihm und fühlt sich durch dessen alle paar Tage eintreffenden Briefe unter Druck gesetzt. Dann kommt jedoch ein Brief, der nichts anderes ist als ein Hilferuf: Hart bittet Meyerhoff um seine Unterstützung, weil in seiner Angelegenheit wohl eine Entscheidung bevorstehe. Schon eine Woche später steht Hart überraschend vor der Tür der Familie Meyerhoff in Schleswig-Holstein.

Lesen?

Das Buch ist am Anfang wegen der zahlreichen Rückblicke auf Meyerhoffs Leben als Kind etwas schleppend, sodass man sich fragt, ob und wann er wohl in diesem Buch endlich in den USA ankommen würde. Danach ist es in jeder Hinsicht emotional, ohne dabei aber in Gefühlsduselei abzugleiten: Meyerhoff schreibt über sich selbst mit viel Humor und reflektiert auch sein damaliges Unvermögen, mit dem Tod seines Bruders umzugehen. Völlig überraschend erhält er Unterstützung von einer unerwarteten Seite. Wie auch der hier schon vorgestellte zweite Teil der Buchserie mit dem Titel Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war ist auch dieser Roman eine gelungene Mischung aus Humor und Nachdenklichkeit.
Alle Toten fliegen hoch - Teil 1: Amerika ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als Taschenbuch 10,99 Euro.