2007 erschien im kleinen Wiener Verlag Edition Korrespondenzen ein Gedichtband, der die ganze Vorstellung über die Lyrik der Leningrader Katastrophe revolutionierte. «Blockade» entstammte der Feder von Gennadi Gor, der Entdecker war der Übersetzer Peter Urban, der sich zunächst der Kurzprosa zugewandt hatte. Der von Urban zweisprachig herausgegebene Band war nicht nur eine deutsche, sondern auch eine russische Erstveröffentlichung. Gor (1907–1981) war in den sechziger und siebziger Jahren ein bekannter und beliebter Science-Fiction-Autor. Seine frühere experimentelle Prosa kannten nur wenige, und von seinen Gedichten wusste niemand.
«Edgar Poes unsinniges Lächeln, / Cervantes mit unsichrem Gang, / Nutzlos, doch golden ein Fischlein / Ein höchst gefährlicher Fang. / Mich töten wird man, weiss ich, an einem Montag / Und liegen lassen wo der Waschtisch ist. / Und waschen wird sich dort mein Häscher / Und wundern dort wo man sich küsst, / Und lächeln, während er sich wäscht.» Aus solchen Zeilen spricht das absolute Entsetzen – vor dem Erfrieren, vor dem Verhungern, vor dem Gefressen-Werden, buchstäblich, von einem, der zum Kannibalen wird. In Gors Gedichten verwandelt sich der Kannibalismus in eine schaurige Metapher, sie wird zum Leitmotiv der Blockade-Existenz. Viel wichtiger aber ist, dass diese Gedichte das Chaos und die Erstarrung der Zeit in der Hölle der Blockade wiedergeben, und dies in ständigem Dialog mit dem eigenen Tod. Was Gors Gedichte zu einem Ereignis im russischen Literaturleben macht: Es hat sich herausgestellt, dass die von der Doktrin des sozialistischen Realismus verpönte Sprache der Leningrader Avantgarde die einzige dichterische Sprache war, die dem existenziellen Ausnahmezustand gewachsen war. Fast scheint es, als ob die «seltsamen Dichter» der dreissiger Jahre, Daniil Charms (während der Blockade im Gefängnisspital verhungert), Alexander Wwedenski (beim Gefangenentransport erschossen) und Nikolai Sabolotski (damals im Arbeitslager), ihre Sprache, ihre poetische Imagination und ihren komplexen Zeitbegriff in Vorahnung der Blockade entwickelt hätten. …
Eine weitere Entdeckung ist die 2011 in Moskau erschienene Gedichtsammlung von Pawel Salzmann (1912–1985), einem Maler und Grafiker und Schüler von Pawel Filonow 1883–1941), dem im ersten Blockade-Winter ums Leben gekommenen Klassiker der russischen Kunst-Avantgarde. / Oleg Jurjew, NZZ 3.9.