Im eben zitierten Artikel spricht Olga Martynova über vergessene Autoren der klassischen russischen Moderne, von denen zur Zeit viele in Deutschland erstmals oder wieder gedruckt werden. Ich zitiere bloß mal, was sie über Lyriker darunter schreibt:
Die Novelle … ist Michail Kusmin (1872–1936) gewidmet, einem der wichtigsten und bis heute einflussreichen Lyriker der klassischen Moderne. Im Leningrad der zwanziger und dreissiger Jahre versammelte er jüngere Künstler um sich, die nicht der sozialistisch realistischen Ästhetik folgen wollten, darunter auch Wsewolod Petrow, den künftigen renommierten Kunsthistoriker. (…)
Und es gibt immer noch vieles, das der Entdeckung harrt. Die Dichterin Anna Radlowa (1892–1949) etwa, die wie Wsewolod Petrow nach der Revolution zum Kreis von Michail Kusmin gehörte. Sergei Prokofjew beschreibt in seinem Tagebuch, wie er Kusmin im Haus von Anna Radlowa und ihrem Mann, dem berühmten Regisseur Sergei Radlow, traf und sich angesichts der ärmlichen Kleidung des Dichters für seinen Pariser Mantel mit seidenem Futter zu schämen begann. Radlowa schrieb Ende der dreissiger Jahre «Powest über Tatarinova», das von der rätselhaftesten aller russischen Sekten, den Kastraten, erzählt. (…) Das Ehepaar Radlow gelangte im Zweiten Weltkrieg aus dem von der Wehrmacht besetzten Nordkaukasus nach Deutschland. Es kam nach dem Krieg freiwillig zurück, wurde der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt und ins Straflager geschickt, wo Radlowa 1949 starb. Ihre Werkausgabe erschien erst 1997.
Und ihr Fazit:
Noch immer steht der russische Realismus des 19. Jahrhunderts hoch im Kurs, doch lohnt es sich, den Blick zu wenden, um zu erkennen, dass in der russischen Sprache eine zweite, ganz andere, aber nicht weniger grossartige Klassik existiert.
/ NZZ 24.11.