134. Prinzip der Skepsis

Die viele Jahrzehnte umspannende Auswahl macht deutlich, wie stark sich die Autorin in Stil und Methode bis zu ihrem Tod treu blieb. In Szymborskas Werk herrscht die Lust am Zweifel, der Drang, alles in Frage zu stellen bei klarem Eingeständnis des eigenen Nichtwissens. Seit ihrer kurzzeitigen Verstrickung in den stalinistischen Literaturbetrieb der frühen 50er-Jahre verabscheute die Dichterin unwiderlegbare Wahrheiten, zerstörte sie systematisch und doch in jedem einzelnen Fall überraschend. Es ist das Prinzip der Skepsis, des ganz genauen Hinsehens, mit dem sie auch in diesem neuen Band den Leser verunsichert und in den Bann schlägt. So geschieht es zum Beispiel mit der “Glücklichen Liebe” in dem gleichnamigen Gedicht. Die Lyrikerin polemisiert nach Kräften gegen diesen Zustand. Er sei nicht ernst zu nehmen, unnütz, die Gerechtigkeit beleidigend, mit gefährlichen Folgen im Falle massenhaften Auftretens. Am Ende heißt es, wer mit dieser Auffassung an die glückliche Liebe herangehe, sterbe leichter – eine ironische Wendung, aber keine ins banale Gegenteil. …

In dem Zyklus “Es ist genug”, an dem Wislawa Szymborska bis zu ihrem Tod arbeitete und den sie nicht mehr zum Abschluss brachte, verhält es sich genau so. Selbst dort, wo auf einmal Interesse am politischen Alltag aufscheint, geht es um die Betrachtung der grundlegender menschlicher Eigenschaften. “Jemand, den ich seit einiger Zeit beobachte”, heißt ein Gedicht, in dem sich Szymborska mit den in Polen letzthin beliebten Massendemonstrationen des nationalkatholischen Lagers beschäftigt. Bierflaschen, Scherben, Rosenkränze, Trillerpfeifen und Präservative zählt sie auf. Der Text ist ein Protest gegen die Straßenumzüge, indes artikuliert von einem schweigsamen Müllmann, indem der die Überbleibsel des an Pathos reichen Aufmarsches kommentarlos einsammelt. / Martin Sander, DLR

Wislawa Szymborska: Glückliche Liebe und andere Gedichte
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall und Karl Dedecius
Mit einer Nachbemerkung von Adam Zagajewski
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
100 Seiten, 19,50 Euro



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