Sie hätte sich vielleicht das Glück gewünscht, ein ereignisloses Leben zu führen. Nämlich Gedichte zu schreiben, einen kleinen Ruhm zu genießen, Krakau möglichst selten zu verlassen. Doch Wisława Szymborska erhielt 1996 den Literatur-Nobelpreis, das änderte alles. Das hob sie aus ihren polnischen Dichterkollegen heraus, erhob sie auch über jene Ehrungen, die sie bereits erfahren hatte, etwa den Goethe- und den Herder-Preis.
Also ist sie nach Stockholm gefahren und hat die erwartete Dankrede gehalten. Man sagt, es sei die kürzeste seit langem gewesen. Gewiss die am wenigsten eitle. Sie sagte, der Satz „ich weiß nicht“ sei ihr lieb und teuer. Sie rühmte den Prediger Salomo und sein Klagelied über die Eitelkeit allen menschlichen Strebens. Szymborska stiftete das Preisgeld für soziale Zwecke: Sie zog sich in ihre Stille zurück und hat weiter geschrieben. Wenige, doch großartige Gedichte. / Harald Hartung, FAZ
Eines ihrer späten Gedicht beginnt so: „Eigentlich könnte jedes Gedicht / ,Augenblick’ heißen. // Eine Phrase genügt / in Präsens, / im Perfekt und sogar im Futur; // es genügt, dass irgendetwas / von Wörtern getragenes / raschelt, aufblitzt, / vorbeifließt / oder die vermeintliche Unveränderlichkeit bewahrt, / aber mit beweglichen Schatten.“
In Versen wie diesen bestätigte sie ihren Ruf, ihre Poesie sei mit den Gedanken im Bunde. Aber dieser Ruf erfasst nur die Seite ihres Werks, in der es scheinbar durchsichtig ist: „Sag ich das Wort Zukunft, / ist seine erste Silbe bereits Vergangenheit. // Sag ich das Wort Stille, / vernichte ich sie. // Sag ich das Wort Nichts, / schaffe ich etwas, das in keinem Nichtsein Raum hat.“
Die andere Seite aber ist situativ und bildlich, statt logisch und begrifflich. Hier verdichtet sich die Paradoxie der Zeit im hochmodernen riskanten Augenblick, in der Schrecksekunde der plötzlichen Katastrophe, des Unfalls. So ist es im Gedicht über die Kindergräber („Winzige Unfolgsamkeiten, / eine davon tödlich. // Die lustige Jagd nach dem Ball auf der Fahrbahn. / Glückliches Gleiten über das brüchige Eis“).
Wegen dieser Fähigkeit, Schrecksekunden zu bewahren, verdanken wir Wislawa Szymborska bleibende Nachbilder der modernen Einheit von Augenblick und Attentat. In „Die große Zahl“ (1976) gab es das Gedicht „Der Terrorist, er schaut zu“, das Verrinnen der Minuten vor dem Zeitpunkt der Zündung einer Bombe in einer Bar. Und in „Der Augenblick“ (2002) gingen unter dem Titel „Fotografie vom 11. September“ die Menschen, die aus den Türmen sprangen und dabei fotografiert wurden, in das Gedicht ein: „Nur zwei Dinge kann ich für sie tun – / diesen Flug beschreiben / und den letzten Satz nicht hinzufügen.“ / Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung
Mehr: Renate Schmidtgall, DLF / Marta Kijowska, NZZ / ND / DLR /