13. Lyrik in der Hölle

Von Lnpoe

In der NZZ schreibt Oleg Jurjew über das Leben und Sterben in der Hölle des belagerten Leningrad.

Selbstverständlich wurde in der Hölle viel Literatur produziert! Die meisten der Schriftsteller, die in der Stadt geblieben waren (viele waren ins Landesinnere evakuiert worden), wurden mobilisiert und den Armeezeitungen oder dem Rundfunk zugeteilt. Dieser war das für einfache Blockade-Menschen relevante Medium. Das Radio sendete nicht nur Nachrichten, Musik und Reden der kommunistischen Parteiführer, sondern auch Gedichte und Reportagen. Einige Lyriker, die ihre Gedichte im Leningrader Rundfunk vorlasen, wurden unglaublich populär. Man könnte sich an Olga Bergholz (1910–1975) erinnern, die in den dreissiger Jahren als linientreue junge Lyrikerin viel Schlimmes anrichtete, etwa Kollegen in der Presse beschuldigte, «feindliche Spione» zu sein. Das konnte indes ihre eigene Verhaftung 1938 nicht verhindern. Ihr Mann, der Lyriker Boris Kornilow, wurde hingerichtet; gepeinigt bei Verhören, verlor sie ihr ungeborenes Kind. 1939 vom NKWD freigelassen und rehabilitiert, trat Bergholz der Partei bei und setzte ihre Karriere fort. Während der Blockade wurde sie für von grosser emotionaler Stärke geprägte Gedichte wie eine Heilige verehrt, was sie nach dem Krieg unantastbar machte. Sie trank viel und war durch ihr loses Mundwerk stadtbekannt. Einmal lud man sie in die KGB-Zentrale im Litejnyi Prospekt ein, als Ehrengast, damit sie ihre Gedichte vortrüge. Sie kam, schon angetrunken, und fragte, noch bevor sie ihren Mantel ablegte: «Los, Leute, zeigt mir, wo ihr derzeit foltert!»

Die Gedichte von Bergholz kann man, wie auch viele andere Werke, die während der Blockade verfasst wurden, allerdings kaum Dichtung der Blockade nennen. Es sind Gedichte (und auch Prosastücke) über die Blockade, Texte, die versuchen, etwas Rationales ins Unbegreifliche der Gegenwart zu bringen, Menschen Mut zu machen und Halt zu geben. In diesem Sinne ähneln sich zum Durchhalten aufrufende Gedichte der Rundfunk-Dichter und leise, verzweifelte «Privatbeschreibungen» des Blockade-Alltags. Nehmen wir etwa ein Gedicht von Natalia Krandijewskaja-Tolstaja (1888–1963), einer Lyrikerin und zeitweisen Frau des berühmten sowjetischen Romanciers Alexei Tolstoi. Es erzählt, wie Menschen mit Eimern das Wasser aus den Flüssen und Kanälen holten: «Lass uns den Eimer am Kinderschlitten festbinden, / und Wasser holen fahren / – hinter der Brücke gibt es einen steilen Hügel, / Vorsicht beim Abstieg . . . (. . .) Das Schneegestöber kreiselt über der Newa, / in weissen Federn, im Silber, / mit dem Wasserholen war es genau so / vor 200 Jahren, zur Zeit des Zaren Peter . . . » Wir sehen, dass hier mittels Verweis auf die Geschichte ein Rationalisierungsversuch unternommen wird. Solche Gedichte von Krandijewskaja sowie ihr Blockade-Tagebuch wurden zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlicht – sie galten als zu privat, zu unheroisch.