Ob es ein Zufall gewesen sein mag oder ob der Moderator Schönenborn seine eigenen Einleitungsworte in die Sendung nicht so recht glauben konnte, als er am Sonntagmittag mit einem Hustenanfall in den „Presseclub“ einstieg (http://www.wdr.de/tv/presseclub/2012/0916/beitrag.phtml), mag man unterschiedlich interpretieren. Dass der traditionelle Austausch unter den Medienschaffenden aber von Anfang eine klare Richtung in der Debatte kannte, war schon nach den ersten Sätzen des ARD-Wahlexperten deutlich geworden.
Der 12. September 2012 sei ein Tag, um ihn ihm Kalender „anzustreichen“, so Schönenborn – und verwies damit auf das nach seiner Sicht wegweisende und international viel beachtete Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das nun den Weg frei gemacht hat für mehr Hilfen in der EU. Nach dem langen Hängen in der Warteschleife sei das nun „ein Hoffnungszeichen für Europa“ – und das auch, so merkte Schönenborn an, weil an diesem Tag etwas Alltägliches zu großem Aufsehen gesorgt hätte: Als Fußnote und fast nicht wahrgenommen hatten die Niederländer am 12.9.12 gewählt – und, das ist sei das Beachtliche, hätten mit großer Wucht die Stimmen und Sitze des „Rechtspopulisten“ und „Europagegners“ Wilders halbiert. Alles in allem sei das doch ein neuer Anfang für die Euro gewesen.
Und was hätte man auch Anderes erwarten können: Standardgemäß ging die erste Frage in der Runde an die weibliche Gesprächsteilnehmerin, die Schönenborn umgehend beipflichtete. Ja, sie sehe es als Zeichen der Hoffnung für einen Neubeginn Europas – der Europäische Stabilitätsmechanismus habe aus der gelähmten Situation der Hilflosigkeit herausgeholfen, so verlautete es im weiteren Verlauf der Sendung. Selten hat man Europafreunde so einig und erleichtert beisammen gesehen – es schien, als hangelten sie sich von Beginn an wie an einem roten Faden durch die Diskussion, die nur ein Ziel zu kennen vermochte. Die Zuschauer sollten überzeugt werden: Das Bundesverfassungsgericht hat Europa gerettet – nun wird alles gut.
Schönenborn hatte von Anfang an seine Arbeit vollbracht: Die bösen Europa-Skeptiker waren mit den Holland-Wahlen ohnehin abgestraft worden, der Bundespräsident konnte nun in gutem Gewissen vor dem Grundgesetz seine Unterschrift unter die ESM-Abstimmung des Bundestag setzen. Man fragte sich, wofür es die Sendung eigentlich brauchte. Wüsste man nicht, dass es sich bei der ARD um eine deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt handelt, hätte man fast meinen können, die Sendeminuten zwischen 12.03 und 12.45 Uhr wären von den Krisenländern Europas oder der EU höchstpersönlich zu Werbeshymnen für den eigenen Zweck einvernahmt worden.
Fakt ist: Die Partei um den niederländischen Politiker Wilders hat erhebliche Stimmenanteile abgeben müssen. Dass dies ausgerechnet auf den Tag der deutschen Gerichtsentscheidung fiel, ist ein bloßer Zufall – und keine mystische Botschaft des Untergangs der Euroskeptiker, wie das der „Presseclub“ schon fast esoterisch vermitteln wollte. Politisch gesehen war dieser Verlust an Stimmen auch nicht wirklich sensationell: Wilders und seine Anhänger hatten bei der letzten Abstimmung erheblich von den Anfängen der Krise und der Unsicherheit profitieren können. Klientel- und Themenparteien erleben im Vergleich zu etablierten Volksparteien viel einfacher und schneller erdrutschartige Siege und Niederlagen. Sie sind ungeheuer stimmungsabhängig – wie das Beispiel des nahezu auf die Hälfte der besten Umfragewerte zusammengeschmolzenen „Piraten“-Potenzials oder das Daniedersinken der „Grünen“ nach ihrem Atom-Gau-Profit und dem Einheimsen der Regierungsverantwortung in Baden-Württemberg zeigt.
Entscheidend bleibt: Das Stimmungsbild in vielen Ländern ist unbestritten. Gerade die, die enttäuscht sind von der EU-phorie und die demokratische Beteiligung vermissen, resignieren und finden sich nicht in der politischen Bewegung wieder. Daher ist es umso wichtiger, dass ihnen weiterhin eine Stimme von denen gegeben wird, die verantwortlich mit nötiger Zurückhaltung dem Projekt gegenüberstehen, das in immer klarere Bahnen gelenkt wird: Politiker verhaspeln sich nicht mehr nur aus Versehen zwischen einem europäischen Staatenbund und einem europäischen Bundesstaat. Was so ähnlich klingen mag, ist in der Folge für die Bürger ein katastrophaler Unterschied. „Nein“ zu einer Entwicklung zu sagen, die unumkehrbar scheint – das ist nicht populistisch, sondern mutig und nötig. Daher mag es Einbrüche im Kern einer europaweiten Vereinigung von Parteien und Initiativen geben, zu der Wilders und andere in unterschiedlichen Ausformungen, Facetten und Wertigkeiten zählen – das Einstehen für eine nationalstaatliche Souveränität prägt weite Teile Europas auch fortan mit Recht.
Man dreht und wendet, wie man es braucht – und da wird eben auch ein nicht allzu spektakulärer Absturz bei einer Wahl in einem einzigen der vielen EU-Länder zum Trendbarometer hochstilisiert. Bei allen Versuchen, den neuen Sonnenaufgang über Europa zu beschwören, bleiben zahlreiche bittere Geschmäcke, die so gar nicht ins Eingangsbild des „Presseclubs“ passen: Neue Umfragen zeigen, dass viele Deutsche europaskeptischer geworden sind, dass die europakritischen Parteien zwar keinen aktuellen Aufschwung erleben – im Durschnitt aber bei beachtlichen Prozenten verharren können, die Unsicherheit über Verträge ohne Ausstiegsklausel ebenso groß ist wie das Zweifeln an einer 190-Miliarden-Deckelung.
Wer auf dem Bildschirm einen Schein provoziert, der beim einzelnen Bürger ganz und gar nicht die Alltagsrealität und die tatsächliche Meinung in der breiten Mehrheit wiederspiegelt, der macht Theater. Möglicherweise blieb dem „Presseclub“ nichts Anderes übrig ob der eigenen Verzweiflung über das Trauerspiel aus Brüssel. Einen Aufbruch durch das Verfassungsgerichtsurteil zu erkennen, ist mehr als gewagt. Unter dem Druck von Wirtschaft und krisengeschüttelter Öffentlichkeit in den südeuropäischen Staaten waren die Minimaleinschränkungen im Entscheid der Versuch, allen gerecht zu werden. Für diejenigen, die die substanzielle Fragestellung in der gesamten Angelegenheit erkannt haben – den Komplex um Bankenhaftung, ordnungspolitische Nachlässigkeit zahlreicher Regierungen in der Haushaltspolitik, ein eingeschliffener Verlust an finanzieller Objektivität, das Verharren in selbstzerstörerischen Lebens- und Politikstilen, fehlende direktdemokratische Partizipation der EU-Bürger und die Zeitenwende, an der eine Entscheidung über das Miteinander der Zukunft durch das Volk geregelt werden muss –, musste das Urteil zu wenig, ja sogar ein Hohn, sein.
Entsprechend wird auch das „Hoffnungszeichen“ des Herrn Schönenborn bei denen nicht ankommen, die weiterhin Herrn Wilders oder denjenigen vertrauen, die sich auch in Deutschland ganz grundsätzlich mit der Europäischen Gemeinschaftspolitik kritisch auseinandersetzen – nicht aus populistischem Hintergrund, sondern aus der Verantwortung heraus, eine ursprünglich vernünftige Idee nicht aus den Händen des Volkes gleiten und nach Belieben von politischen Eigeninteressen steuern zu lassen. Die EU hat eine ungebremste Fahrt aufgenommen, auf diesen Weg haben sie die Bürgerinnen und Bürger nie geschickt. Weichenstellungen im Sinne einer bedingungslosen Partnerschaft unter Diktion einer zentralen Machtverwaltung ohne allzu große demokratische Legitimation sind hierfür der ausschlaggebende Grund. Dass dabei schon seit Jahren mit großer Laxheit über das Grundgesetz hinweggesehen wird, scheint selbst unser Verfassungsgericht unberührt zu lassen. Es mag eine Hoffnung für Europa gewesen sein, dieser 12. September – aber der Anbruch der Finsternis für die nationalen Demokratien…
Dennis Riehle