125. Gefühlshaushalt und Stundenschlag

Von Lnpoe

Es ist schon erstaunlich, dass nach einem Jahrhundert radikaler Infragestellung des individuellen Ausdrucks die Herzen einem Werk zufliegen, das nichts Neues, dies aber mit einer neuen Nuance individueller Fühlsamkeit auszudrücken scheint. Dass dies vielleicht nicht die ganze Wahrheit ist, haben einige Kritiker bemerkt und in widersprüchliche Formulierungen einfließen lassen: sanft und doch wagemutig, exakt und doch verträumt, traumleicht und realitätsschwer, beruhigend und verstörend.

Ist da mehr als ein poetisch entfalteter individueller Gefühls-, Erlebnis- und Erinnerungshaushalt? Theodor W. Adorno hat 1957 in seiner Rede über Lyrik und Gesellschaft eine Perspektive eröffnet, die zu Unrecht immer mehr in Vergessenheit gerät: wenn das lyrische Gedicht gelungen ist, meint er, hält es „den geschichtlichen Stundenschlag fest“. Ist er hier zu hören? …

Vielleicht haben Leserinnen und Leser eine gewisse Scheu, das emblematische Gewicht der DDR im öffentlichen Bewusstsein Deutschlands anzuerkennen, wobei diese Scheu im Westen anders begründet sein mag als im Osten. Aber dass in den Äußerungen zu dem Gedichtband so selten oder nur beiläufig das Thema DDR erwähnt wird, wo doch mindestens die Hälfte der Gedichte einen direkten oder indirekten Bezug zu diesem Thema herstellen, hat vielleicht doch mit dieser Konstellation zu tun.

Ein ganzes Kapitel aus acht zehnzeiligen Gedichten in „Alle Lichter“ heißt „briefe aus eggesin“. Der Name dieses Städtchens, Garnison der NVA, gehört zu den verlorenen Namen des öffentlichen Bewusstseins. Die Gedichte geben sich als Briefe eines Soldaten an seine Frau. Da sie „für meinen Vater“ überschrieben sind, darf man sich vorstellen, dass wirkliche Briefe das Material und vielleicht auch den ironischen Stil und Gestus geliefert haben. Es sind Rollengedichte, in keine Trauer, keine Melancholie getränkt, und das läppische Garnisonsleben, selbst bei der NVA, bekommt einen Sinn als Abbild einer im Voraus verlorenen Zeit. / HANS-HERBERT RÄKEL, Süddeutsche Zeitung 26.4.

NADJA KÜCHENMEISTER: Alle Lichter. Gedichte. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2010. 104 S., 16, 90 Euro.