Wie steht es um die deutschsprachige Lyrik der Gegenwart? Dass sie die derzeit spannendste Gattung ist, pfeifen die Spatzen von den Dächern, doch weiß man auch, dass die Leserschar für Lyrik nicht gerade groß ist. Zwei neue Lyrik-Anthologien stellen sich dieser Herausforderung auf ganz unterschiedliche Weise. …
Der Literaturkritiker Michael Braun und der Autor und Übersetzer Hans Thill verantworten im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn einen Band mit dem programmatischen Titel „Lied aus reinem Nichts“. Er versammelt „Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts“, nimmt also eine willkürliche Zäsur zum Anlass, die „ästhetisch wagemutigsten Schreibverfahren und substantiellsten und eindringlichsten Versuche lyrischen Sprechens“ vorzuführen, wie es recht vage heißt. … Die hierarchiefreie Kommunikation von Motiven und Sprechweisen ist das erklärte Ziel dieser Sammlung, deren muntere Anarchie den Leser dazu einlädt, wie ein schnüffelnder Hund durch die Verse zu streunen.
Michael Braun/Hans Thill (Hg.): Lied aus reinem Nichts. Deutschsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2010. 246 Seiten, 26,80 €.
„In diesem Land“ ist eine aufregende Mentalitätsgeschichte deutscher Befindlichkeiten, an der gerade der subjektive Blick fasziniert. Die meisten Gedichte beziehen sich gar nicht explizit auf Deutschland, und doch wird in der Art, wie jeder Autor sein eigenes lyrisches Idiom ausbildet, seine Haltung kenntlich.
Im Juni 2000 schrieb Thomas Brasch: „Zersprungenes enges Land ganz wie aus Glas /warst du und ganz aus Glas bin ich/vereinigt wer die Welt; geteilt war sie mein Maß/jetzt ist sie hin WOHIN o Schreck und lächerlich.“
Michael Lentz/Michael Opitz (Hg.): In diesem Land. Gedichte aus den Jahren 1990–2010. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010. 637 Seiten, 18 €.
/ Meike Feßmann, Tagesspiegel