123. «Ob etwas Poesie sei, oder nicht»

Novalis schreibt in seinen «Fragmenten und Studien 1799–1800»: «Kritik der Poesie ist Unding. Schwer schon ist zu entscheiden, doch einzig mögliche Entscheidung, ob etwas Poesie sei, oder nicht.» Was Salvatore Quasimodo (1901–1968), den Literaturnobelpreisträger von 1959, angeht, fällt diese Entscheidung leicht. Gianni Selvanis zweisprachige Auswahl von zwanzig Gedichten («Das Leben ist kein Traum», Piper 1960) war ein Konzentrat. Jetzt hat die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung eine Edition vorgelegt, die mit Fug und Recht als ultimativ bezeichnet werden darf.

Es sei vorweggenommen, dass Christoph Ferber mit jedem der italienisch und deutsch vorgestellten 112 Gedichte ein höchst differenziertes Gespräch geführt hat. Und das heisst: Exakte Übersetzungen wechseln ab mit Passagen, die als ein «Weiterdichten» der italienischen Originalversion verstanden werden können, wie Hugo Friedrich im Rahmen seiner nach wie vor unentbehrlichen Studie «Die Struktur der modernen Lyrik» angedeutet hat. Die Kommentare von Antonio Sichera und das Nachwort von Georges Güntert liefern die Schlüssel zu einem Opus, das von der Wahrheit der Poesie Zeugnis ablegt. Dass diese Wahrheit sich sowohl hinter einer Geheimschrift verbergen als auch im Klartext offenbaren kann, erweist sich als evident. Sicheras Kommentare spiegeln eine äusserst penibel erstellte Quellengeschichte. Das Lesen mutiert zu einer Lektion. Namen wie Ugo Foscolo, Giovanni Pascoli, Giacomo Leopardi und Gabriele D’Annunzio verweisen auf eine breite Skala von Einflüssen, die es letzten Endes auch fraglich erscheinen lassen, Quasimodo ausschliesslich einer Strömung der modernen Lyrik zuzuordnen. Ein Kästchendenken verbietet sich. Es wäre sogar ein Verstoss gegen das Freiheitsprinzip hermetischen Dichtens. / Hansjörg Graf, NZZ 17.5.

Salvatore Quasimodo: Gedichte. 1920–1965. Italienisch – deutsch. Ausgewählt und übersetzt von Christoph Ferber. Mit einem Nachwort von Georges Güntert und Kommentaren von Antonio Sichera. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2010. 336 S., Fr. 31.40.



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