122. Die gegenwärtige Krise der Lyrik

Für die NZZ sprach Hoo Nam Seelmann mit dem koreanischen Autor Kim Kwang Kyu über koreanische Lyrik:

Welche Tendenzen gibt es in der Lyrik?

Kim: In der koreanischen Gegenwartslyrik lassen sich zwei grosse Richtungen ausmachen. Die eine zielt darauf, die traditionelle Lyrik durch neue Sujets und Stilelemente behutsam zu bereichern und zu erneuern. Man will so die Kontinuität der alten Lyriktradition erhalten. Die andere stellt dieses Bestreben als solches in Frage. Vor allem die junge Generation zeigt wenig Interesse an Überliefertem. Vergleichbar ist vielleicht die heutige Entwicklung in Korea mit dem Aufkommen des Expressionismus um 1900 in Deutschland. Die jungen koreanischen Lyriker scheinen wenig an der Interaktion mit den Lesern interessiert zu sein. Diese Entwicklung verschärft die gegenwärtige Krise der Lyrik zusätzlich. Aber das mag auch eine unnötige Sorge eines alten, etablierten Lyrikers sein. Denn die Werke der deutschen Expressionisten gehören ja inzwischen zu den Klassikern.

Traditionell galt in Korea die Lyrik als die edelste Gattung der Literatur und wurde von der Elite gepflegt, während Prosa mehr für die breitere Bevölkerung gedacht war. Wie sieht das heute aus?

Kim: Im alten Korea gab die Liebe zur Poesie den Massstab dafür ab, ob jemand gebildet war oder nicht. Heute werden Kenntnisse der Lyrik nur für die Schulprüfungen benötigt, was gewiss einen Abstieg bedeutet. Die Gegenwart ist mehr das Zeitalter der Prosa, besonders der Romane, so dass die Lyrik immer mehr an Bedeutung verliert. Trotzdem erfreut sich die Lyrik in Korea im Vergleich zu den deutsch- und englischsprachigen Ländern dank der Tradition einer grossen Beliebtheit. Eine zahlreiche Leserschaft belegt dies.

Kim Kwang Kyu: Geboren 1941 in Seoul. Studium der Germanistik in Seoul und München. Professor für Germanistik an der Hanyang-Universität. Bekannter Übersetzer deutschsprachiger Lyrik und Kulturvermittler. Er erhielt zahlreiche koreanische Literaturpreise. Auf Deutsch erschienen: «Die Tiefe der Muschel» (Pendragon, 1999), «Botschaften vom grünen Planeten» (Wallstein, 2010). 



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